Artikel • Neurologie

„Altersbedingte Erkrankungen? So etwas gibt es nicht”

Die 12-jährige Teilnahme an einer bildgestützten Bevölkerungsstudie in Rotterdam hat bei Prof. Krestin zu provozierenden Einsichten geführt. Was also kann man aus Bevölkerungsstudien lernen? Vor allem eins: es muss umgedacht und vieles neu gelernt werden.

Prof. Gabriel Krestin ist Leiter der Abteilung für Radiologie und Nuklearmedizin am Erasmus University Medical Center in Rotterdam in den Niederlanden und führt die European Population Imaging Infrastructure (EPI2) an, eine Initiative der Niederländischen Vereinigung der Universitätskliniken und der Erasmus-Universität. Bildgestützte Bevölkerungsstudien verfolgen das Ziel, in einer großen Anzahl radiologische Bilder zu analysieren, um auf deren Grundlage Biomarker für die Früherkennung und Voraussage von Krankheiten entwickeln zu können.

EPI2 koordiniert die Sammlung von Bilddaten, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten in epidemiologischen Kohorten generiert werden und ist eines der Flaggschiffe der Euro-BioImaging-Initiative. Sie ist eine der großen, dezentralisierten Infrastrukturmaßnahmen auf dem Gebiet der Biowissenschaften, die das Europäische Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen auf dem Plan hat.

Auswirkungen von Alter, totaler Atrophie der weißen Substanz und White Matter...
Auswirkungen von Alter, totaler Atrophie der weißen Substanz und White Matter Lesions (WML) auf die fraktionellen Anisotropie-Werte normal erscheinender weißer Substanz. Die vorliegenden Bilder zeigen den Montreal Neurological Institute (MNI) stereotaktischen Koordinatenraum, wobei für jede Spalte die MNI-Koordinaten für die axialen Ebenen (z) dargestellt sind. Das Gerüst der weißen Substanz (schwarz) wurde auf die axialen MRT-Bilder projiziert. Gelbe bis rote Farben stellen die normal erscheinenden Bereiche der weißen Substanz mit verminderter fraktioneller Anisotropie (FA) dar in Bezug auf (a) fortschreitendes Alter, lediglich korrigiert um das Geschlecht, (b) totale Atrophie der weißen Substanz, korrigiert um Alter, Geschlecht und WML, (c) WML, korrigiert um Alter, Geschlecht und Atrophie der weißen Substanz und (d) fortschreitendes Alter allein, korrigiert um Geschlecht, Atrophie- (weiße Substanz) und WML. Mit zunehmendem Alter zeigen mehrere Regionen einen bedeutenden Rückgang der FA (a). Nach Atrophie- (weiße Substanz) und WML-Bereinigung bleiben jedoch nur wenige Regionen (d). Umfassende Atrophie der weißen Substanz (b) ist mit einem Rückgang der FA im hippocampalen Bereich (z82), Fornix (z90), Corpus callosum (z90 bis z108) und entlang des Gyrus cinguli (z119) verbunden. Die WML-Last (c) dagegen ist mit einer verminderten periventrikulären FA assoziiert (z82 bis z108).

Beim diesjährigen Garmisch Symposium konzentriert sich Gabriel Krestin auf die Ergebnisse der Neurobildgebung bei der Rotterdam-Studie, insbesondere um die weitverbreitete Vorstellung anzufechten, dass es ein altersgerechtes Vorgehen in der Medizin gibt. „So etwas gibt es nicht“, stellt er fest und trotzt damit einer weitgehend akzeptierten und weit verbreiteten Idee: „In der Vergangenheit wurde der Begriff „altersgerecht“ benutzt, um viele Veränderungen dem Alterungsprozess zuzuschreiben. Die Veränderungen, die wir mit dem Vorgang des Alterns in Verbindung brachten, sind aber durch symptomatische und manchmal präklinische oder asymptomatische Krankheiten bedingt. Altern ist kein sogenannter normaler Prozess. So etwas wie ein normales Altern des Gehirns gibt es nicht. Es ist eben nicht „normal“, dass man die Gehirnfunktion mit zunehmendem Alter verliert, oder diese Funktionen nachlassen und das Gehirn in Folge senil wird.

„Was den Alterungsprozess des Gehirns bestimmt – und das erkennen wir zunehmend – ist der Einfluss externer Faktoren: generelle Risikofaktoren, andere zugrunde liegende Erkrankungen und möglicherweise auch genetische Veranlagungen. Aber es ist nicht unbedingt die Anzahl der Jahre, die man gelebt hat, die zu diesen Veränderungen führen.“

„Zu Beginn haben wir innerhalb der Bevölkerungsstudien nach ganz einfachen Dingen gesucht, wie zum Beispiel den unterschiedlichen Gehirnvolumina bei Personen unterschiedlichen Alters. An den medizinischen Fakultäten wurde bisher gelehrt, dass nach der Adoleszenz die Anzahl der Neuronen im menschlichen Gehirn mit dem Alter abnimmt. Betrachten wir jedoch die Volumina der Gehirnstrukturen und messen die graue und die weiße Hirnsubstanz, erkennen wir, dass sich das Volumen der grauen Substanz mit zunehmendem Alter nicht verändert, jedoch das der weißen Substanz. „Ein weiterer Prozess, den wir dem Alter zuschreiben, ist die Entwicklung von Hyperintensitäten in der weißen Hirnsubstanz. Mit bestimmten MRT-Sequenzen können wir diese kleinen Bereiche dank hoher Signalintensität identifizieren, selbst, wenn wir die Histopathologie und Pathophysiologie dieser Läsionen gar nicht genau kennen. Wir nehmen folglich an, dass diese Läsionen in der weißen Substanz degenerativer Natur sind und wissen gleichzeitig, dass die Anzahl und Läsionslast mit dem Alter zunimmt.“

All diese Erkenntnisse sind aber nur die Spitze des Eisbergs.

Gabriel P. Krestin

„Inzwischen haben wir durch bildgestützte Bevölkerungsstudien festgestellt, dass Läsionen in der weißen Substanz mit einer bestimmten Zahl an Risikofaktoren assoziiert sind. Kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck oder Diabetes zum Beispiel führen zu einer Zunahme der Läsionen. Und wir haben auch festgestellt, dass Läsionen in der weißen Substanz Indikatoren für bestimmte Diagnosen sind wie Demenz, aber auch den Schlaganfall.“

„All diese Erkenntnisse sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Denn es gibt viel mehr, das wir mit dem bloßen Auge nicht sehen können und das sozusagen unterhalb unserer Wahrnehmungslinie liegt.

Dank diffusionsgewichteter MRT können wir inzwischen die Integrität von Mikrostrukturen oder Schäden in der weißen Substanz diagnostizieren. Was wir dank neuer MRT-Methoden bei Querschnittstudien der Bevölkerung entdecken konnten, ist, dass sogar bei der nicht beeinträchtigten weißen Hirnsubstanz, die bei konventionellen MRT-Aufnahmen ganz normal aussieht, eine Veränderung der Diffusionswerte zu erkennen ist, lange bevor eine Läsion der weißen Substanz Jahre später sichtbar wird. Die Mikrostruktur der weißen Hirnsubstanz wird mit der kognitiven Fähigkeit in Verbindung gebracht, folglich der Schaden an der Mikrostruktur mit einer kognitiven Beeinträchtigung assoziiert.“

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Gabriel P. Krestin ist Professor für Radiologie und Direktor der Abteilung Radiologie und Nuklearmedizin Abteilung am Erasmus MC, Universitätsklinikum Rotterdam, Niederlande.

„Wir haben auch Studien mittels einer Kombination von Diffusion und fMRT zur funktionellen Konnektivität durchgeführt, wobei klar wurde, dass diese Schäden der weißen Hirnsubstanz, die wir mit dem Altern in Verbindung brachten, sehr erheblich sind. Und trotzdem haben sie nichts mit dem Alter zu tun. Wenn wir um alle Risikofaktoren und sonstige Faktoren, die eine Rolle spielen können, korrigieren, wird ersichtlich, dass nicht viel übrig bleibt. Statt altersbedingte Veränderungen zu erfahren, werden alternde Personen zunehmend durch Erkrankungen beeinträchtigt, die mit kardiovaskulären Risikofaktoren, Diabetes, einer Abnahme der Hirndurchblutung oder geschädigter Mikrovaskulatur zusammenhängen.“

„Kurz und gut: Das, was wir mit dem Alter in Verbindung bringen, hängt nicht mit dem sogenannten normalen Alterungsprozess zusammen, sondern ist Teil eines Prozesses, der mit der Pathophysiologie von bestimmten Krankheiten zusammenhängt.“ Die bildgebende Erfassung solcher Veränderungen wird immer wichtiger, weil sie als Biomarker fungieren, die bestimmte Erkrankungen voraussagen können. Menschen, die Schäden an der Mikrostruktur der weißen Hirnsubstanz aufweisen, oder in hohem Maße an Atrophie oder Läsionen der weißen Substanz leiden, haben ein größeres Risiko, an Demenz oder Schlaganfall zu erkranken.

In den letzten 50 Jahren hat sich die Lebenserwartung deutlich erhöht, weil wir die genannten Risikofaktoren inzwischen viel besser verstehen und bekämpfen können und deshalb eine bessere Prävention betreiben.


Profil:
Gabriel P. Krestin ist Professor für Radiologie und Direktor der Abteilung Radiologie und Nuklearmedizin Abteilung am Erasmus MC, Universitätsklinikum Rotterdam, Niederlande. Nach seinem Studium an der Universität Köln und Weiterbildung in Radiologie war er als Leiter des MRT-Zentrums am Züricher Universitätsklinikum tätig. Dort wurde er zum Professor für Radiologie und Leiter der klinischen Radiologie ernannt, bevor er zu seiner jetzigen Position wechselte.

Veranstaltunsghinweis
Donnerstag, 02.02.2017, 14:15-14:35 Uhr
Lissner Lecture: Altersentsprechend? Was kann der Radiologe aus Bevölkerungsstudien lernen?
G.P. Krestin, NL-Rotterdam
Session: Filmreading und Special
Focus Sessions: Neuro & HNO

20.02.2017

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