„Man sieht nur, was man weiß“

Für Prof. Birgit Ertl-Wagner, Oberärztin und Leiterin des Bereichs Magnetresonanztomographie am Institut für Klinische Radiologie im Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München, gilt diese Weisheit besonders für das Auffinden von Anlagestörungen des Gehirns.

Die axiale T1-gewichtete Sequenz zeigt eine bandförmige (laminäre)...
Die axiale T1-gewichtete Sequenz zeigt eine bandförmige (laminäre) Heterotopie mit einem kortex-isointensen Band innerhalb der weißen Substanz.

Dieses berühmte Zitat von Goethe ist keine leere Formulierung, sondern auf viele Bereiche des Lebens anwendbar. Denn nur mit einer gewissen Kenntnis der Hirnentwicklung in der Embryonal- und Fetalzeit können Anlagestörungen des Gehirns richtig erkannt werden. „Ansonsten streift den Radiologen oftmals nur das diffuse Gefühl, da stimmt etwas nicht. Ohne fundierte Kenntnisse wird man die Anomalien nicht richtig einordnen können und die Erkrankung rutscht einfach durch - mit bisweilen gravierenden Folgen für die Betroffenen“, so Ertl-Wagner.

Anlagestörungen des Gehirns erklären sich aus der Organentwicklung; dabei gibt es ein breites Spektrum an Veränderungen, sowohl von den klinischen Symptomen her als auch von der Art der Anlagestörung. „Die frühe Hirnentwicklung in utero kann auf vielfältige Weise verändert sein. Eine relativ häufige Störung ist die Balkenagenesie: Fehlt der Corpus Callosum, kann das klinische Spektrum von gar nicht klinisch auffällig bis zu tiefgreifend entwicklungsgestört reichen, und das obwohl diese Störungen von der Bildgebung her gleich aussehen“, so die Münchner Wissenschaftlerin. Weitere Ursachen einer Anlagestörung können in der Kortexentwicklung liegen: Die neuronalen Stammzellen werden in der Tiefe des Gehirns gebildet, direkt neben den Hirnkammern. Im Laufe der Entwicklung wandern sie auf radiären Straßen an die Oberfläche, werden dort – bevor sich das Gehirn einfaltet – in die richtigen Schichten einsortiert und bilden dann als graue Zellen die Hirnrinde. Bei dieser komplexen Abfolge von Vorgängen in der Embryologie und später in der Fetalentwicklung gibt es auch viele Möglichkeiten der Fehlentwicklung. Es gibt Störungen der neuronalen Proliferation (Gruppe 1), Störungen der neuronalen Migration (Gruppe 2) und Kortexorganisationsstörungen (Gruppe 3). Weitere Anlagestörungen bestehen, wenn sich die beiden Hemisphären des Großhirns nicht richtig differenzieren oder Fehlbildungen innerhalb der intrakraniellen Strukturen, etwa beim Kleinhirn oder dem Hirnstamm, auftreten.

Die MRT mit ihrem hervorragenden Weichteilkontrast und ihrer guten Ortsauflösung ermöglicht eine genaue Differenzierung und Klassifikation der beschriebenen Anlagestörungen. In der Münchener Klinik werden häufig Kinder mit einer unklaren Entwicklungsstörung vorgestellt. „Für einen Teil der untersuchten Kinder hat die Diagnose keine direkte therapeutische Konsequenz. Dennoch ist es für die Eltern sehr wichtig, die Ursachen der Andersartigkeit ihres Kindes zu kennen. Daraus ergeben sich auch verschiedene Implikationen für die Hilfestellungen, die die Eltern für ihre Kinder einholen können“, schildert die Oberärztin. Sie empfiehlt den betroffenen Eltern, sich mit diesen komplexen Fragestellungen an sozialpädiatrische oder kinderneurologische Zentren zu wenden, die eine Rundumversorgung bieten, darunter auch sehr erfahrene Kollegen in der Bildgebung. In der Regel werden die Kinder allerdings heimatnah untersucht und nicht in Zentren.

„Für Radiologen, die vor allem mit Erwachsenen vertraut sind, ist es eine Her-ausforderung, diese Anlagestörungen richtig zu erkennen. Die richtige Diagnose macht für die weitere Entwicklung des Kindes aber einen großen Unterschied. Daher ist es wichtig, dass dieses Wissen in der Radiologie auch ankommt. Es gibt Spezialindikationen, wie seltene genetische Syndrome, die man an Spezialisten verweisen kann, aber die grundlegenden Störungen sollten alle Radiologen kennen“, betont Ertl-Wagner.

Eine der häufigeren Indikationen für die fetale MRT ist ein fehlender Balken (Corpus Callosum) im Ultraschall. Normalerweise bildet er sich in der 8. bis 20. SSW aus. Wenn er auch im MRT nicht entdeckt wird, ist die Beratungssituation für die Eltern sehr schwierig. Eine der Fragestellungen an die Radiologen lautet dann: Finden sich noch weitere sichtbare Veränderungen im Gehirn? Gibt es irgendwelche Hinweise, die es ermöglichen, die Prognose besser einzuschätzen? Klassischerweise ist das leider schwierig zu beurteilen, weshalb die Elternberatung dann auch interdisziplinär von Gynäkologen, Neonatologen und Kinderneurologen übernommen werden sollte.

Im Profil:
Prof. Dr. Birgit Ertl-Wagner leitet seit 2009 den Bereich Magnetresonanztomographie am Institut für Klinische Radiologie, Klinikum Großhadern, und erhielt im November 2012 den Ruf auf die W2-Professur für klinische und experimentelle Magnetresonanztomographie an der LMU. Zu Ihren Spezialgebieten gehören neben der Kinderneuroradiologie die zerebrale Fluss-, Perfusions- und Druckquantifizierung mit der MRT und die Diffusions-Tensor-Bildgebung. Seit 2005 führt die Münchnerin die Schwerpunktbezeichnung für Neuroradiologie. Immer wieder forschte sie auch in den USA, zuletzt 2012 als William R. Eyler Fellow der RSNA. In diesem Jahr wurde Ertl-Wagner mit dem Therese von Bayern Preis und dem Felix-Wachsmann-Preis der Deutschen Röntgengesellschaft ausgezeichnet.
 

17.10.2013

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