Differenzierte Einblicke in das menschliche Gehirn

„Endlich haben wir Werkzeuge, mit denen wir das Gehirn gesunder und kranker Patienten nicht invasiv erforschen können”, erklärt Prof. Dr. Stefan Sunaert, Leiter des Bereichs Translational MRI der Abteilung Bildgebung & Pathologie des Universitätskrankenhauses Leuven (Belgien).

Dr. Stefan Sunaert
Dr. Stefan Sunaert

Die Technologie, die dies ermöglicht, heißt functional magnetic resonance imaging (fMRI), genauer gesagt: resting fMRI (rfMRI), die jüngsten Weiterentwicklung von fMRI, mit der die Hirnfunktion visualisiert werden kann. Damit kann gezeigt und quantifiziert werden, welche Gehirnregionen in einen bestimmten Prozess involviert sind. „Aber wie genau das Gehirn arbeitet, das müssen wir noch erforschen. Erst dann können wir Krankheit verstehen“, ergänzt Sunaert in seiner Rolle als Chairman der New Horizons Session „Imaging of the mind“ am European Congress of Radiology (ECR 2013), der am Montag in Wien zu Ende geht.

Die Aktivität des ruhenden Hirns wird durch Änderungen des Blutflusses im Gehirn ermittelt. Das magnetresonanztomografische Verfahren bedient sich der unterschiedlichen Magnetisierung des sauerstoffarmen venösen und sauerstoffreichen arteriellen Blutes. Dadurch entsteht ein sog. Blood Oxygen Level Dependent Signal (BOLD), das die Gehirntätigkeit anzeigt und grafisch mittels Farben dargestellt wird. Jede Gehirnaktivität verrät sich mit einem BOLD-Signal. Auf diese Weise kann die funktionelle Organisation des Gehirnes und ihre Veränderung infolge von Erkrankungen untersucht werden. Das Signal wird freilich durch starkes Rauschen überlagert. „Wir haben lange gebraucht, um zu beweisen, dass es sich nicht um Artefakte handelt, sondern dass das BOLD-Signal tatsächlich mit Gehirnaktivitäten korreliert“, erzählt Sunaert.

Bei der Erforschung der funktionalen Verbindungen des Hirns wurde eine Reihe von Netzwerken, von Mustern synchroner Aktivität, im Gehirn gefunden. Diese sog. components werden ja nach Lage und Funktion identifiziert: ausführende Kontrolle, sensorisch/motorisch, auditorisch, bis zu drei unterschiedliche visuelle, zwei lateralisierte frontal/parietale und das temporal/parietale component. Die Bestandteile dieser Netzwerke liegen in verschiedenen Gehirnregionen und sind beim gesunden Menschen stets gemeinsam aktiv.

Ein besonderes gut erforschtes Netzwerk ist das sog. default mode network (DMN), ein Flechtwerk von Gehirnregionen, das aktiv wird, wenn der Mensch sich wach in einem Ruhezustand befindet. Es wird durch Nachdenken, Erinnern oder Tagträumen aktiviert und ist negativ korreliert mit anderen Netzwerken, die mit visueller Außenwahrnehmung zu tun haben.

Die Aktivität des DMN verändert sich im Lauf des Lebens: „Mit zunehmendem Alter nimmt die Konnektivität dieses Netzwerks ab. Und genau das passiert auch bei Alzheimer“, erklärt Prof. Dr. Andrea Falini, Leiter der Abteilung Neuroradiologie des Istituto Scientifico San Raffaele in Segrate in der Nähe von Mailand (Italien). Zu Falinis Forschungsschwerpunkten gehört die Differenzierung zwischen dem natürlichen Alterungsprozess und der Entwicklung der Alzheimer-Erkrankung, die sich gleichermaßen im DMN manifestieren. Ziel ist es, Alzheimer bereits im Frühstadium zu diagnostizieren. „Die Frühdiagnose ist für die Erarbeitung neuer therapeutischer Strategien unerlässlich“, betont der italienische Neuroradiologe.

Manchen Neuroradiologen freilich ist rfMRI nicht ganz geheuer. Am ECR verwies Chairman Sunaert auf mehrere Anwendungen, die aus seiner Sicht zu missbilligen seien. In einer auf fMRI basierenden Studie wurden die neuralen Antworten von Kindern in Zusammenhang mit Marken untersucht. Die Ergebnisse bestätigten, dass Lebensmittel-Logos bei Kindern bestimmte Hirnregionen aktivieren, die mit Motivation zusammenhängen. Sunaert machte auch auf ein US-Unternehmen aufmerksam, das damit wirbt, auf Basis von BOLD-Signalen zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden zu können – eine neue Variante des Lügendetektors. „Das ist wirklich gruselig“, bekennt Sunaert und fragte das Publikum: „Würden sie sich einer fMRI-Untersuchung unterziehen, wenn diese Lügen oder auch erotische Gedanken identifizieren kann?“ Keiner der Zuhörer hob die Hand.

14.03.2013

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