Warum belohnen sich Menschen mit Hunger?
Neuer Professor setzt MRT zur Erforschung neuronaler Prozesse bei Magersucht-Patientinnen ein
Mit Prof. Stefan Ehrlich gewinnt das Uniklinikum Dresden einen ausgewiesenen Hirnforscher: Der Arzt und Wissenschaftler wechselt von der US-amerikanischen Eliteuniversität Harvard Medical School an die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Neben der von ihm vertretenen Grundlagenforschung zur Hirnentwicklung von Kindern und Jugendlichen verantwortet er seit Anfang Oktober die Behandlung von Patienten mit Essstörungen.
Das sind vor allem Kinder und Jugendliche, die unter der Anorexia nervosa, der so genannten Magersucht, leiden. Ein wichtiger Aspekt der Forschungsarbeit sind die im Gehirn der Betroffenen ablaufenden Prozesse: Offenbar verarbeiten Magersüchtige ihre Emotionen anders als Menschen ohne Essstörungen. Dafür verantwortlich sind hochkomplexe neuronale Netze im Gehirn, die das Wissenschaftler-Team um den neu berufenen Professor vor allem mit einem 3-Tesla-MRT-Gerät erforschen will.
Hierzu werden sie in den kommenden drei Jahren rund hundert junge Leute untersuchen – neben akut erkrankten auch erfolgreich therapierte sowie gesunde Personen. Mit der Berufung von Prof. Ehrlich kann die Klinik ihr wissenschaftliches Profil weiter schärfen: Der 2009 berufene Klinikdirektor Prof. Veit Rößner setzt verstärkt auf naturwissenschaftliche Forschungsmethoden, um Ursachen psychischer Erkrankungen zu klären und darauf aufbauend Therapieformen zu verbessern oder neu zu entwickeln.
„Patienten mit Magersucht verarbeiten ihre Emotionen anders als gesunde Menschen“, erklärt Prof. Ehrlich den Ausgangspunkt seiner Forschungen. Als Beispiel nennt der 32-Jährige das typische Verhalten, sich durch Essen selbst zu belohnen oder zu motivieren – etwa mit einem Stück Schokolade: „Bei Patientinnen mit Magersucht dagegen funktioniert es genau umgekehrt. Das positive Gefühl entsteht durch den Verzicht auf Nahrung.“ Das normale wie auch das veränderte Belohnungssystem des Menschen lässt sich auch anhand der dazu im Gehirn ablaufenden Aktivitäten ablesen. Bereits in der Erwartung von etwas Positivem werden Hirnareale aktiv. Vor allem das komplexe Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Areale könnte ein Schlüssel dafür sein, die bei Patientinnen mit Magersucht veränderte Verarbeitung von Emotionen zu beschreiben und zu interpretieren. Um die Hirnaktivitäten genau verorten zu können und deren Intensität zu messen, setzen die Forscher auf einen drei Tesla starken Magnetresonanz¬tomographen (MRT). Über eine gewisse Zeitspanne aufgenommene Bilder des Gehirns werden von Hochleistungsrechnern ausgewertet, um Ort, Dauer und Intensität der aktivierten Hirnareale bestimmen zu können. Prof. Ehrlich bringt hierfür umfassendes Know-how mit nach Dresden: In den vergangenen drei Jahren forschte er zu ähnlichen Themenkomplexen an der Harvard Medical School in Boston.
Arbeit an der Schnittstelle zwischen Krankenversorgung und Forschung
Mit seiner Berufung Anfang Oktober übernahm der neu berufene Professor zudem die Leitung der ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen für Patienten mit Essstörungen. Für Prof. Ehrlich ist diese Doppelrolle als Arzt und Wissenschaftler die Basis für erfolgreiche Forschungsprojekte: „Die Schnittstelle zwischen Krankenversorgung und Forschung ermöglicht es uns, Hypothesen aus der klinischen Praxis heraus zu entwickeln und dann wissenschaftlich zu überprüfen.“ Bei den Erkenntnissen zu Auslösern und Ursachen psychischer Erkrankungen gibt es gerade bei Kindern und Jugendlichen noch viele weiße Flecken. Essstörungen sind dafür ein gutes Beispiel: „Die in den 1980er und 1990er Jahren diskutierte Annahme, dass es sich dabei vorrangig um eine Zivilisationskrankheit handelt, gilt heute als widerlegt. Vielmehr zeigt sich, dass diese Erkrankungen zu einem hohen Maß genetisch bedingt sind. Die Erblichkeit von Essstörungen ist etwa genauso hoch wie bei Multipler Sklerose“, erklärt Prof. Ehrlich. Allerdings spielen Umweltfaktoren – dazu gehören vermutlich auch die Bedingungen in modernen Industriegesellschaften – eine gewisse Rolle: Sie können dazu beitragen, dass sich aus einer Disposition eine Erkrankung entwickelt.
Um mehr über die Entstehung von Essstörungen und anderer psychischer Erkrankungen zu erfahren, nutzen die Ärzte und Wissenschaftler um Klinikdirektor Prof. Rößner verstärkt naturwissenschaftliche Verfahren. Unter anderem laufen weitere Forschungsvorhaben zu Tic-Störungen, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktvitätsstörung (ADHS), Zwangsstörungen und Bipolaren Störungen. Neben dem 3-Tesla-MRT-Gerät nutzen die Wissenschaftler auch endokrinologische Analyseverfahren: Informationen zu Stoffwechsel und Hormonspiegel geben ebenfalls Aufschluss über Art und Verlauf seelischer Erkrankungen. Die Magnetresonanztomographie jedoch stellt die Forscher vor die größte Herausforderung: Beispielsweise von Belohnungen ausgehende Stimulationen des Gehirns seien so gering, dass sie vom ‚Grundrauschen’ der allgemeinen Hirnaktivität nur schwer unterscheidbar seien, sagt Prof. Ehrlich.
Um die Messmethoden weiter zu verfeinern, setzt er auf die naturwissenschaftliche und technische Expertise der TU Dresden: „Ich möchte den vorhandenen großen Erfahrungsschatz für unsere Projekte aktivieren und Synergien zwischen Ingenieuren, Informatikern, Physikern, Psychologen und Ärzten nutzen.“ Wichtig für die Auswertung der vom MRT gewonnenen Daten ist auch die Beteiligung des Zentrums für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen der TU Dresden, deren Computerkapazitäten beim Ausbau der Forschungsvorhaben der Klinik eine wichtige Rolle spielen.
Darüber hinaus gab das in Dresden herrschende wissenschaftliche Klima einen entscheidenden Ausschlag für Stefan Ehrlichs Entscheidung, der US-amerikanischen Elite-Uni den Rücken zu kehren und nach Dresden zu kommen: „An der TU Dresden und dem Uniklinikum kann ich mit Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten, die nicht nur gute Forscher, sondern auch gute und kreative Manager sind, die einen jederzeit unterstützen und auch für neue Wege zu begeistern sind“, begründet er seine Entscheidung. Dies schaffe eine Atmosphäre, unter denen junge Wissenschaftler wie er selbst Pioniergeist entwickeln und sich an dem weiteren Ausbau der Projekte beteiligen können.
26.10.2010