Debatte

Sichelzellkrankheit: Ist das Neugeborenen-Screening notwendig?

Jährlich sterben weltweit rund eine viertel Million Kleinkinder an der Sichelzellkrankheit. In Deutschland leiden rund 3000 Menschen an der angeborenen Blutkrankheit, die zu den seltenen Erkrankungen zählt. Tendenz steigend: Mit dem Zustrom an Flüchtlingen geht voraussichtlich ein Anstieg einher, denn von der Sichelzellkrankheit sind ausschließlich Patienten mit Migrationshintergrund betroffen. Patienten, bei denen die Krankheit unerkannt bleibt, sterben häufig noch im Kindes- und Jugendalter. In Ländern wie den USA, den Niederlanden und Frankreich gehört die Untersuchung daher bereits zum regulären Säuglingsscreening.

Report: Sylvia Schulz

Dr. Stephan Lobitz von der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und...
Dr. Stephan Lobitz von der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité in Berlin.

Die Familien der Erkrankten stammen ursprünglich aus Gebieten, in denen die Malaria endemisch war oder noch ist. Die Prävalenz ist am höchsten in Westafrika. Dort ist jeder fünfte Tod bei Kindern unter fünf Jahren Folge der Sichelzellkrankheit. Doch auch in Deutschland ist die frühe Erkennung nicht sichergestellt. In drei deutschen Modell-Projekten in Berlin, Hamburg und Heidelberg versuchen Mediziner nun herauszufinden, ob der Test auf Sichelzellkrankheit im Rahmen des regulären Neugeborenen-Screenings umgesetzt werden kann und sollte.

Denn nur wenn die Krankheit bekannt ist, kann gehandelt werden. „Schon sehr einfache Maßnahmen können die schweren gesundheitlichen Folgen der Krankheit und die frühe Sterblichkeit drastisch reduzieren“, sagt Dr. Stephan Lobitz von der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité in Berlin, einem der drei beteiligten Zentren. „Durch die Schulung der Eltern, eine akute Blutarmut zu erkennen und bei Fieber des Kindes sofort einen Arzt aufzusuchen, sowie durch eine Prophylaxe mit Penicillin und Impfungen lassen sich fast alle Todesfälle im Kindes- und Jugendalter verhindern.“ Voraussetzung sei jedoch, dass die Blutkrankheit bekannt sei und die Eltern aufgeklärt wurden. Lobitz hält Reihenuntersuchungen von Neugeborenen daher für unerlässlich.

Die Sichelzellkrankheit ist Folge einer angeborenen Veränderung des in den roten Blutkörperchen (Erythrozyten) vorkommenden roten Blutfarbstoffs (Hämoglobin). Die wichtigste Aufgabe von Hämoglobin ist der Transport von Sauerstoff von den Lungen in die verschiedenen Organe und Körpergewebe. Erythrozyten sind mit Flüssigkeit gefüllt, und gesundes Hämoglobin ist normalerweise in dieser Flüssigkeit gelöst. Das Hämoglobin von Patienten mit einer Sichelzellkrankheit hat dagegen die Eigenschaft, nach der Abgabe von Sauerstoff als Festkörper in den Erythrozyten auszufallen.

Diese Festkörper stören die normalerweise sehr ausgeprägte Flexibilität der Erythrozyten und beschädigen die Zellen, sodass sie eine verkürzte Lebenszeit haben. In der Folge verformen sich die Erythrozyten, bleiben in kleinen Blutgefäßen stecken und verstopfen diese. Es kommt zu winzigen Infarkten und zu ebenso winzigen Organschäden, die sich aber im Laufe des Lebens summieren und zu einer merklichen Beeinträchtigung der Funktion bestimmter Organe bis hin zu ihrer vollständigen Zerstörung führen können. Parallel kommt es durch den vorzeitigen Tod von Blutzellen zum vermehrten Anfall von Stoffwechselprodukten, die auch größere Blutgefäße schädigen.

Neben diesen langsam, aber stetig progredienten Veränderungen kommt es außerdem zu akuten Problemen durch das plötzliche Anfallen großer Mengen an Sichelzellen in Folge. Diese sogenannten Krisen, deren Auslöser nicht klar definiert sind, sind oft mit massiven Schmerzen verbunden, die häufig im Krankenhaus behandelt werden müssen, nur mit stärksten Schmerzmitteln behandelbar sind und die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Daneben gibt es andere gravierende Akutkomplikationen wie die Milzsequestration, bei der Blut nur noch in die Milz hinein, aber nicht wieder heraus fließt. Jeder neunte Patient erleidet noch vor dem 18. Lebensjahr einen Schlaganfall. Virusinfektionen können zu einer akuten, lebensbedrohlichen Blutarmut führen.
Im Rahmen des Projekts wird nun geprüft, ob eine Untersuchung auf die Sichelzellkrankheit mit den in Deutschland  üblichen Untersuchungsmethoden möglich wäre. „International werden dafür Geräte verwendet, mit denen deutsche Labore in der Regel nicht ausgestattet sind“, berichtet Lobitz. Doch auch mit der in Deutschland im Rahmen des Screenings üblichen Tandem-Massenspektrometrie könnte seiner Meinung nach die Sichelzellkrankheit diagnostiziert werden. „Dabei muss sichergestellt werden, dass rasch zuverlässige Befunde vorliegen und betroffene Neugeborene schnell von einer Spezialabteilung für Bluterkrankungen versorgt werden“, betont der Facharzt.

Bisher wurden bei den Screening-Untersuchungen an den drei Standorten (Hamburg, Heidelberg, Berlin) insgesamt 90.000 Kinder untersucht; bei 24 von ihnen konnte die Sichelzellkrankheit nachgewiesen werden. Wie die Ergebnisse umgesetzt werden, ist derzeit noch unklar. Aktuell befinde man sich in politischen Verhandlungen, berichtet Lobitz. Unterstützung erhalten die Forscher auch von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) als relevante Fachgesellschaft. „Wichtiges Anliegen der DGIM Mitglieder ist es, auch bei Erkrankungen, von denen nur sehr wenige Menschen betroffen sind, Lösungsansätze für eine optimale Diagnose und Behandlung zu finden“, sagt Professor Dr. Dr. h.c. Ulrich Fölsch, Generalsekretär der DGIM aus Kiel. Daher begrüße die DGIM den Vorstoß der Forschergruppe.

PROFIL:
Dr. Stephan Lobitz ist an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie/Hämatologie, Charité Berlin tätig. Nach dem Studium an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Pädiatrie (Charité) beschäftigt. Seit 2012 ist er Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Sprecher der Studienleitung der GPOH-Registerstudie „Sichelzellkrankheit“.

13.11.2015

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