Freiheit oder Sozialismus? Statements zur Gesundheitsreform in den USA

von Bettina Döbereiner

Ausgewiesene Beobachter der US-amerikanischen Gesundheitspolitik diskutierten am ersten Tag des deutschen Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit (05.-07. Mai) die Frage, inwiefern die US-Gesundheitsreform als ein Meilenstein auf dem Weg zu einem sozialen Staat betrachtet werden kann.

Photo: Freiheit oder Sozialismus? Statements zur Gesundheitsreform in den USA
Photo: Freiheit oder Sozialismus? Statements zur Gesundheitsreform in den USA

Prof. Dr. Reinhard Busse moderierte die Veranstaltung. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und in seiner Eigenschaft als einer der Direktoren des "European Observatory on Health Systems and Policies" mit den europäischen Gesundheitssystemen vertraut. Seine Gäste waren John C. Kornblum, ehemaliger Botschafter der USA in Berlin, und Jack Warren Salmon, Professor für Health Policy and Administration an der Universität von Illinois.

Die Frage, ob die im März 2010 in Washington verabschiedete Gesundheitsreform als Meilenstein auf dem Weg zu einem sozialen Staat gedeutet werden könne, verneinte John C. Kornblum entschieden. In seinem Vortrag verwies er darauf, dass die USA nicht als Staat im deutschen Wortsinn zu verstehen seien. Die US-Bürger betrachteten sich vielmehr als Volk und ihre Regierung als bloße Verwaltung. Dies spiegele sich auch in der Wortwahl von »administration« für Regierung wieder. Die Selbstbestimmung stehe für die US-Bürger an erster Stelle. »Sie sehen eine allgemeine Krankenversicherung schon als einen bedeutenden, gefährlichen, unumkehrbaren Schritt in Richtung Sozialismus«, so John C. Kornblum. Diesem Umstand sind auch die großen Widerstände, insbesondere der Republikaner, gegen die Reform geschuldet. Das Reformvorhaben sei also nicht aus dem Wunsch, die USA in einen Sozialstaat umzuwandeln, heraus entstanden, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, Geld zu sparen.

Prof. Dr. Busse wies darauf hin, dass in den USA bisher erstaunlich viel öffentliches Geld in das Gesundheitswesen geflossen sei, gemessen am Bruttoinlandsprodukt fast genau so viel wie in Deutschland. Hier liegen die öffentlichen Gesundheitsausgaben bei ungefähr 8% des Bruttoinlandsproduktes. »Was die USA von uns unterscheidet, ist, dass da noch mal 8% drauf kommen an privaten Gesundheitsausgaben, bei uns aber nur 2,5%«, so Prof. Dr. Busse. Laut einer von ihm zitierten McKinsey-Studie verfügen die USA über das technisch effizienteste Gesundheitssystem weltweit. Diese Tatsache steht allerdings im Kontrast zu relativ geringen Leistungen für den Einzelnen und im Vergleich zu Europa einer kleineren Anzahl von Ärzten und Krankenhausbetten. Prof. Dr. Busse erklärt sich diese Diskrepanz zwischen hohen Ausgaben für die Gesundheit einerseits und geringen Leistungen andererseits damit, dass es in den USA die innovativste medizintechnische Ausrüstung gibt, für die pro Leistung deutlich mehr Geld verlangt werde, als das in Europa üblich sei. Diese Tatsache habe oft zu dem Missverständnis geführt, in den USA werde wenig Geld für die Gesundheit ausgegeben. Das Gegenteil sei der Fall. Die Reform solle nun dafür sorgen, dass das Geld effizienter eingesetzt werde, zum Wohl - fast - aller.

Prof. Dr. Salmon, der seit 1964 im Healthcare-Bereich tätig ist, begrüßte in seinem Vortrag, wie alle auf dem Podium, die Verabschiedung der Gesundheitsreform durch die Demokraten. Allerdings hob er hervor, wie komplex dieses Gesetzeswerk mit seinen knapp 3.000 Seiten sei und wie schwer es selbst ihm als Profi gefallen sei, alle einzelnen Klauseln in ihrer Bedeutung und Tragweite sofort zu erfassen.

Die Reform sieht vor, bis 2019 über die Hälfte der bisher 50 Millionen nicht krankenversicherten US-Bürger zu versichern. Sie können dann in ihrem jeweiligen Bundesstaat an Gesundheitsbörsen (»health insurance exchange marketplace«) die Versicherungspolicen der derzeit insgesamt 15.000 privaten Versicherer miteinander vergleichen und schließlich erwerben. Anders als heute erhalten Geringverdiener dann Steuervergünstigungen und die Versicherer können nicht mehr so einfach potentielle Versicherungsnehmer aufgrund von chronischen Krankheiten, anstehenden kostenintensiven Behandlungen oder anderen Risikofaktoren ausschließen. Und, es soll eine Strafe geben, wenn Bürger sich nicht freiwillig versichern. Das aber könnte zu rechtlichen Problemen führen, denn die Bundesregierung hat grundsätzlich keine Vollmacht, den Bürger zum Kauf privater Güter zu verpflichten, wie es bei einer privaten Krankenversicherungen der Fall wäre, kritisierte Prof. Dr. Salmon. Das »Recht auf Versicherungsfreiheit« könnte folglich juristisch eingefordert werden.

Zu den weiteren Schwachstellen der Reform zählt nach Prof. Dr. Salmon, dass geschätzte 23 Millionen Menschen in den USA auch nach der Reform unversichert bleiben werden: dazu zählen acht Millionen illegale Einwanderer, Menschen, die aus religiösen Gründen die Mitgliedschaft in eine Krankenversicherung verweigern, Gefängnisinsassen und Ureinwohner. Auch bedauert er, dass sich der linke Flügel der Demokraten nicht mit der Forderung nach einer staatlichen Krankenversicherung (»public option«) durchsetzen konnte. Außerdem beklagte er, dass die Reform insgesamt noch zu wenig auf die Entwicklung von Infrastruktur, wie der Förderung von städtischen Gesundheitszentren (»community health centers«), setze. Eines der Grundprobleme des Gesundheitssystems in den USA, darin schienen alle Diskutanten einig, ist der Mangel an präventiver Medizin. Hausärzte seien nach wie vor unterbezahlt und insgesamt gebe es zu wenig von ihnen, so dass die Patienten in der Regel nicht in den Genuss von Vorsorgeuntersuchungen kommen, sondern sofort in der Notaufnahme (»emergency room«) landen. Dies könnte sich durch die Reform ändern, da die Hemmschwelle eines Versicherten, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen, abgesenkt wird.

Entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg der Gesundheitsreform aber wird letztlich ihre schrittweise Implementierung sein. Für das Jahr 2019 ist die vollständige Umsetzung vorgesehen. Doch dazwischen liegen viele Wahlen - die nächste Kongresswahl schon im November dieses Jahres - und, vermutlich, ein Strauß voller Klagen.
 

06.05.2010

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