Artikel • Therapie zerebraler Aneurysmen
Filigran und ausgeklügelt – der Werkzeugkasten gegen die Hirnblutung
Aneurysmen sind eine enorme Herausforderung für die Neurologie: Ihre Diagnose ist oft Zufall, doch bei einer Ruptur können die Folgen verheerend sein. Entsprechend ausgeklügelt ist das Instrumentarium, das mittlerweile für ihre Behandlung zur Verfügung steht.
„Wir konnten unser endovaskuläres Behandlungsspektrum für die Aneurysmatherapie in den vergangenen Jahren merklich vergrößern“, sagt Dr. Hannes Nordmeyer. Der Leitende Arzt für interventionelle Radiologie und Neuroradiologie bei radprax und Leiter der neurointerventionellen Abteilung der St. Lukas Klinik Solingen berichtet, mit welchen Mitteln Interventionalisten den erweiterten Arterien zu Leibe rücken – und erklärt, warum Nichtstun manchmal die bessere Strategie ist.
Von kontrolliert ablösbaren Coils, die in den 1990er-Jahren einen Durchbruch in der endovaskulären Behandlung erlebten, über Bifurkationsstents, die bei schwierigen anatomischen Gegebenheiten zum Einsatz kommen bis hin zu maßgeschneiderten Miniatur-Implantaten zur Remodellierung des Blutflusses – der Werkzeugkasten der Neurointerventionalisten ist reich gefüllt mit innovativen Devices. Angesichts des anspruchsvollen Terrains ist dies auch nötig, denn einige Aneurysmen verlangen den Experten viel ab – sei es durch ungünstige Morphologie, Größe oder Nähe zu kritischen anatomischen Strukturen. „Aneurysmen, die in einem ungünstigen Verhältnis zum Trägergefäß oder zu Gefäßästen an der Basis lokalisiert sind, konnten in der Vergangenheit endovaskulär nicht behandelt werden, jedenfalls nicht mit einem vertretbaren Risiko für den Patienten“, so der Experte. Als Beispiele nennt Nordmeyer Aneurysmen extrem breitbasige, weit peripher gelegene sowie fusiforme Aneurysmen, die zur Thrombosierung neigen.
Innovative Techniken wie Ballon-Remodeling oder Stent-assistiertes Coiling eröffneten nach und nach Optionen auch für diese schwierigen Fälle. Einen Universalschlüssel für sämtliche Gegebenheiten haben Interventionalisten aber nach wie vor nicht in ihrem Werkzeugkasten: „Die Sondierung besonders spitzwinklig abgehender Bifurkationsäste an der Aneurysmabasis ist immer noch eine Herausforderung“, so Nordmeyer. „Dort müssen aufwändige Manöver vollführt werden, um einen Stent platzieren zu können.“
Basilaris-Aneurysma: 55-jährige Patientin, komatös, Hunt & Hess V mit Subarachnoidalblutung und Hydrozephalus okklusus aufgrund eines 19mm großen Aneurysmas der Spitze der Arteria basilaris, das sowohl blutungsverursachend war als auch durch direkte Kompression zu einem Aquäduktverschluss führte. Bifurkations-Stent assistierte Coil-Okklusion unter Verwendung eines pCONUS II 4-15-10 und zahreicher Coils in Doppelmikrokathetertechnik.
Mit Körbchen und Tellern gewappnet
Mittlerweile wurden jedoch Produkte entwickelt, die auch die Behandlung besonders breitbasiger oder anatomisch ungünstig konfigurierter Aneurysmen ermöglicht. Hierzu zählt der Experte intraaneurysmale Implantate, die auch als ‚Flow Disruptor‘bezeichnet werden. Sie bringen den Blutfluss innerhalb des Aneurysmas mithilfe eines gewobenen Körbchens zum Erliegen. Geht es um die Rekonstruktion eines erkrankten Gefäßsegmentes bei fusiformen Aneurysmen, so kommen Flow Diverter zum Einsatz, die den Blutfluss am Aneurysma vorbeilenken. So wird der Druck innerhalb des Aneurysmas gesenkt, was zu einer Thrombosierung und schließlich zur Schrumpfung der krankhaften Erweiterung führt.
Eine Weiterentwicklung zur Remodellierung der Aneurysmabasis stellen Devices dar, die auf die Form des jeweiligen Aneurysmas ‚maßgeschneidert‘ sind. Tellerförmige Implantate und Bifurkations-Stents stabilisieren die Basis des Aneurysmas und ermöglichen die klassische Coilokklusion ohne Kompromittierung der Bifurkationsäste. Diese Implantate gibt es als freistehende Ausführung ebenso wie Modelle, die auf Stents montiert sind. „Wir haben inzwischen eine Reihe von Instrumenten an der Hand, die eine Behandlung auch in Fällen mit anatomisch sehr schwierigen Situationen bei geringem Risiko für den Patienten ermöglichen.“
Neurochirurgen sind dringend gefragt, wenn nicht nur eine Subarachnoidal-, sondern auch eine Parenchymblutung vorliegt, die einer Dekompression bedarf; etwa bei Aneurysmen der Arteria cerebri media
Hannes Nordmeyer
Trotz der großen Fortschritte ist die endovaskuläre Behandlung von Aneurysmen nach wie vor nicht ohne Risiken. „Zum einen besteht die Gefahr eines ischämischen Schlaganfalls durch thromboembolische Ereignisse während der Behandlung“, zählt Nordmeyer auf. „Zum anderen kann das Aneurysma während des Eingriffs platzen – das ist jedoch extrem selten. Bei elektiven Eingriffen erhalten die Patienten Blutverdünner, um ischämischen Komplikationen vorzubeugen.“ Grundsätzlich gilt: Je aufwändiger der Eingriff, desto höher das Risiko für Komplikationen.
Viele der neuen endovaskulären Techniken bieten sich auch für Fälle an, die zuvor der Neurochirurgie vorbehalten waren. Bei einer Reihe von Aneurysmen bleibt diese auch weiterhin das Mittel der Wahl, betont Nordmeyer. „Neurochirurgen sind dringend gefragt, wenn nicht nur eine Subarachnoidal-, sondern auch eine Parenchymblutung vorliegt, die einer Dekompression bedarf; etwa bei Aneurysmen der Arteria cerebri media.“ Auch bei anatomisch anspruchsvoller Lokalisation kann der neurochirurgische Ansatz einen besseren Zugang zum Aneurysma bieten, der möglicherweise mit geringeren Kollateralschäden am Hirn einhergeht.
Doppel-Ballon assistiertes Media-Aneurysma: 58-jährige Patientin mit schlagartigen Kopfschmerzen und Subarachnoidalblutung Hunt & Hess I aus einem 3mm großen Aneurysma der rechten Arteria cerebri media. Coil-Okklusion mit einer Hydrogel-beschichteten und drei weichen Coils unter Protektion beider Bifurkationsäste mit Eclipse-Remodellingballons.
Zufallsbefund: Auf den ersten Schock folgt meist Gelassenheit
Die Diagnose eines – auch harmlosen – Aneurysmas kann bei Patienten zu Ängsten bis hin zu Angststörungen und pathologischem Vermeidungsverhalten führen, mit teils erheblichen Einbußen an Lebensqualität
Hannes Nordmeyer
Da nicht rupturierte Aneurysmen in aller Regel keine Beschwerden verursachen, werden sie meist inzidentell diagnostiziert. „Ein typischer Fall ist die Abklärung von Kopfschmerzen per MRT, bei der das Aneurysma als Zufallsbefund in der Bildgebung auffällt“, erklärt Nordmeyer. „Dann gilt es, in einem besonnenen Gespräch Nutzen und Risiken eines Eingriffs mit dem Patienten zu erörtern.“ Bei vielen Betroffenen löst der Begriff Hirnarterien-Aneurysma Panik aus – der Blick auf die tatsächlichen Fallzahlen zeigt jedoch ein anderes Bild: „In Deutschland liegt die Prävalenz bei etwa 3,2%; das heißt, etwa 2,6 Millionen Menschen haben ein solches Aneurysma. Von diesen erleiden pro Jahr allerdings nur etwa 10.000 Menschen eine daraus entstehende Subarachnoidalblutung.“ Darüber hinaus sollte über wichtige Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck aufgeklärt werden, empfiehlt der Experte. In Kombination mit Größe, Lage und Konfiguration des Aneurysmas lässt sich abwägen, ob die Vorteile eines Eingriffs zur Entfernung dessen Risiko aufwiegen oder ob eine regelmäßige Verlaufskontrolle die bessere Strategie ist. „Nach meiner Erfahrung gehen viele Patienten mit einem nicht zwingend behandlungsbedürftigen Zufallsbefund nach umfangreicher Beratung den Weg der regelmäßigen Beobachtung – meist mit stetig größer werdenden Intervallen, wenn sich herausstellt, dass sich das Aneurysma nicht verändert.“
Aus diesem Grund hält der Experte das gezielte Screening nach Aneurysmen für nicht sinnvoll: „Für die Wenigsten, die man dabei identifizieren würde, läge überhaupt eine Behandlungsindikation vor, denn rund 66% aller Aneurysmen sind kleiner als fünf Millimeter. Andererseits kann die Diagnose eines – auch harmlosen – Aneurysmas bei Patienten zu Ängsten bis hin zu Angststörungen und pathologischem Vermeidungsverhalten führen, mit teils erheblichen Einbußen an Lebensqualität.“ Bei entsprechender neurologischer Symptomatik seien die Möglichkeiten der Bildgebung jedoch fraglos ein Segen, so der Experte abschließend.
Profil:
Dr. Hannes Nordmeyer ist Leitender Arzt für interventionelle Radiologie und Neuroradiologie bei radprax und Leiter der neurointerventionellen Abteilung der St. Lukas Klinik Solingen. Zuvor war er als Oberarzt am Alfried Krupp Krankenhaus Essen tätig. An der Universität Witten/Herdecke folgt Dr. Nordmeyer darüber hinaus einem Lehrauftrag mit Schwerpunkt Neuroradiologie über den Lehrstuhl Prof. P. Haage am Helios Universitätsklinikum Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Embolisation von Gefäßveränderungen und in der mechanischen Rekanalisation beim akuten Schlaganfall sowie bei Stenosen der Hirnarterien. Dr. Nordmeyer ist DeGIR-zertifiziert (Stufe 2 der Module E & F) und verfügt über umfangreiche klinische Erfahrungen in der Neurologie und Neurochirurgie.
15.12.2020