Erstmals wissenschaftlich beschrieben: Ulmer Wissenschaftler entschlüsseln genetisch bedingte Immundefekterkrankung bei kanadischen Ureinwohnern / Veröffentlichung im New England Journal of Medicine
Großer Erfolg für Wissenschaftler der Ulmer Universitätsmedizin: Das renommierte New England Journal of Medicine berücksichtigt in seiner aktuellen Ausgabe eine Originalarbeit, die einen schweren kombinierten Immundefekt (severe combined immunodeficiency – SCID) bei kanadischen „First Nations-Kindern“ der „Northern Cree“ beschreibt. Aufgeklärt wurde der Defekt gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Freiburg, Kanada und Schweden. Zuvor hatten Forscher weltweit nicht genau verstanden, warum die betroffenen Patienten während ihres ersten Lebensjahres an schweren wiederkehrenden viralen, bakteriellen und mykotischen Infektionen sowie einer generellen „Gedeihstörung“ leiden und schließlich versterben.
„Wir erhielten vor rund drei Jahren von Prof. Dr. Marlis Schroeder, leitende Ärztin des Knochenmark- und Stammzelltransplantationszentrums im kanadischen Winnipeg, DNA-Material und Blut von vier betroffenen Säuglingen aus vier Familien sowie von drei gesunden Geschwisterkindern vom Stamm der Northern Cree. Hinzu kamen Hautfibroblasten – also Zellen des Bindegewebes – von einem der Säuglinge“, erläutert Dr. Klaus Schwarz vom Institut für Transfusionsmedizin, der als „Korrespondierender Letztautor“ der Studie fungierte. Er ergänzt: „Wir wurden um Unterstützung gebeten, da diese Form eines SCID wissenschaftlich bislang nicht erklärt werden konnte. Die Erkrankung ist äußerst selten. In Deutschland beispielsweise liegt die Anzahl der Neuerkrankungen bei etwa einem Fall auf 50.000 bis 100.000 Geburten.“
Selten aber tödlich
„Ohne eine adäquate Behandlung in Form einer geeigneten Stammzelltransplantation versterben die betroffenen Patienten in aller Regel innerhalb ihres ersten Lebensjahres. Das war uns natürlich ein großer Ansporn. Zumal die Aufdeckung von Gendefekten, die den einzelnen SCID-Erkrankungen zugrunde liegen, Einblicke in molekulare Mechanismen gewährt, die für die Entwicklung und Funktion der Immunabwehr von zentraler Bedeutung sind“, erläutert Dr. Schwarz.
Eingrenzung auf Chromosom 8
Aufwändige Untersuchungen des Genmaterials der erkrankten Säuglinge und der Vergleich mit der unauffälligen DNA der Geschwisterkinder führten schließlich zu einer Eingrenzung eines Bereichs auf Chromosom 8. In diesem Abschnitt fanden die Forscher eine Mutation des so genannten IKBKB-Gens, die sich in Form einer Verdopplung eines DNA-Bausteins zeigt. Dieser Fehler im „Bauplan des Lebens“ führt zu einer „Nullmutation“. Mit anderen Worten: Das vom Gen kodierte IKK2-Protein wird in den Zellen der betroffenen Patienten überhaupt nicht gebildet.
„Bis zum heutigen Tage wurden keine Erkrankungen beim Menschen beschrieben, die auf einer Mutation im IKBKB-Gen beruhen. Basierend auf Mausstudien ist man bislang davon ausgegangen, dass ein Fehlen des IKK2-Proteins mit seiner zentralen Funktion in zellinternen Signalwegen nicht mit dem Leben vereinbar ist.
Uns ist damit erneut eine Erstbeschreibung einer genetisch bedingten Immundefekterkrankung gelungen“, unterstreicht Dr. Ulrich Pannicke vom Institut für Transfusionsmedizin. Er ist zusammen mit Dr. Bernd Baumann vom Institut für Physiologische Chemie einer der Erstautoren der Studie.
Endlich ist ein schneller Therapiebeginn möglich
Diese Entdeckung erlaubt jetzt eine exakte und frühzeitige Diagnose der Erkrankung und damit einen schnellen Therapiebeginn, der lebensrettend sein kann. Außerdem ist nun eine auf gesicherte molekulare Befunde gestützte Familienberatung möglich.
Alle drei Wissenschaftler sind sich darüber hinaus einig, dass die nun gelungene Entschlüsselung auch über die Diagnostik bei den betroffenen Familien hinaus wichtige Bedeutung hat: Sie bringt neue Erkenntnisse über Mechanismen des Immunsystems. Dies ist, wie Dr Baumann ausführt, „die Grundlage, um zukünftig auch neue Möglichkeiten zu entwickeln, das Immunsystem medikamentös zu beeinflussen“.
Warum war die Entschlüsselung der Erkrankung eine so große Herausforderung? „Das Bemerkenswerte ist, dass die Betroffenen aufgrund ihrer stark ausgeprägten Infektionsanfälligkeit klinisch zwar als SCID-Kinder auffallen, ihre Immunzellen im ersten Moment aber nicht auf diese Erkrankung hindeuten. Wir mussten wirklich mit sehr viel Phantasie und detektivischen Spürsinn an die Analysen herangehen“, bilanziert Dr. Klaus Schwarz.
Weitere Information
Der Originalartikel ist unter dem Titel „Combined Deficiency of Innate and Acquired Immunity Causes by an IKBKB Mutation“ im New England Journal of Medicine erschienen (N Engl J Med 2013; 369:2504-14. DOI: 10.1056/NEJMoa1309199).
Weltweit sind mittlerweile rund 20 Gene beschrieben, deren Mutationen zum klinischen Bild eines schweren kombinierten Immundefekts (SCID) führen können. Die Wissenschaftler und Mediziner der Ulmer Universitätsmedizin haben in der Vergangenheit wiederholt als Erstbeschreiber einige dieser Defekte aufklären können.
Dr. Ulrich Pannicke; Institut für Transfusionsmedizin (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. H. Schrezenmeier)
Dr. Bernd Baumann; Institut für Physiologische Chemie (Direktor: Prof. Dr. T. Wirth)
Weitere Erstautoren kommen vom Universitätsklinikum Freiburg.
Korrespondierender Letztautor der Universität Ulm:
Dr. Klaus Schwarz; Institut für Transfusionsmedizin und Institut für Klinische Transfusionsmedizin und Immungenetik Ulm (IKT Ulm), DRK Blutspendedienst Baden-Württemberg – Hessen gemeinnützige GMBH
Weitere Koautoren der Universität Ulm:
Institut für Transfusionsmedizin und IKT Ulm:
Constanze Laux
Eva-Maria Rump
Prof. Dr. Hubert Schrezenmeier
Zentrum für biomedizinische Forschung; Genomics Core Facility:
Dr. Karlheinz Holzmann
Institut für Physiologische Chemie:
Prof. Dr. Thomas Wirth
Weitere wichtige deutsche Kooperationspartner:
Mitarbeiter des Centrums für Chronische Immundefizienzen (CCI); Universitätsklinikum Freiburg (Klinischer Direktor: Prof. Dr. med. S. Ehl)
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