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VR auf Rezept? Die Zukunft von Virtual Reality in der Medizin
Virtual Reality (VR) spielt eine immer wichtigere Rolle in der Medizin und schon bald, so die Prognose von Experten, könnte es VR-Behandlungen „auf Rezept“ geben.
Bericht: Mark Nicholls
Virtual Reality (VR) ist seit langem fester Bestandteil der Gaming-Szene: Die Spieler sehen in ihren VR-Brillen die Szenarien, in denen sie mit ihren Mitspielern interagieren. Aber in letzter Zeit sorgte VR auch in der Medizin für Schlagzeilen. Die virtuelle Realität wird bereits in der Behandlung von Ängsten und als Ablenkung in der Schmerztherapie eingesetzt. Jetzt wird erforscht, wie sie die Outcomes von invasiven Eingriffen verbessern könnte oder ob sie sich dauerhafte Komponente zur Senkung des Stressniveaus eignet.
Dr. Todd Richmond, Leiter des Mixed Reality Lab am Institute for Creative Technologies (ICT) der University of Southern California in Los Angeles, ist sicher: „Kurzfristig werden wir viele Projekte sehen, die sich mit der Rolle von VR in der Distraktionstherapie auseinandersetzen. Langfristig wird über die Rolle der VR in stärker therapieorientierten Zusammenhängen nachgedacht werden. Ich schätze, dass es in der nicht so fernen Zukunft VR-Therapien auf Rezept geben wird.“
Da die virtuelle Realität dem Nutzer ein kognitives Embodiment bietet, eröffnet sich Potenzial für die Behandlung einer ganzen Palette an psychischen Problemen
Dr. Todd Richmond
Als einer der weltweit führenden Experten zum Thema virtuelle Realität in der Medizin hat das Team seiner Institution Pionierarbeit in diesem Bereich geleistet. Wissenschaftler unter der Leitung von Dr. Skip Rizzo, Direktor für Medical Virtual Reality am ICT, haben VR zur Behandlung von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und in weiteren klinischen Anwendungen erforscht. Darüber hinaus hat das Team in Zusammenarbeit mit Professor Leslie Saxon am USC Center for Body Computing das Potenzial von VR für die Stressminderung von Patienten im Vorfeld einer Operation untersucht. Dennoch, so Dr. Richmond, bleibe noch viel zu tun. Was kann mit VR behandelt werden? Wie funktioniert das? Welche Gefahren könnten auftauchen? – das alles sind noch völlig offene Fragen.
Studien haben bereits gezeigt, dass VR genauso wirksam oder sogar wirksamer sein kann als medikamentöse Behandlungen in Bereichen wie Schmerzlinderung in Patienten mit Brandwunden oder in psychologischen Therapien wie etwa zur Linderung der PTBS. Dr. Richmond: „Da die virtuelle Realität dem Nutzer ein kognitives Embodiment bietet, eröffnet sich Potenzial für die Behandlung einer ganzen Palette an psychischen Problemen, etwa Phobien oder ähnliches. Außerdem besteht da noch ein mögliches Potenzial, bis jetzt mehr oder minder Spekulation, VR zur Augmentierung oder als Ersatz von medikamentösen Behandlungen einzusetzen und neurale Pfade auf konstruktive Art und Weise neu zu ‚verlegen‘.“
Am Körper getragene Geräte, sog. Wearables, Implantate und Biosensoren verlassen langsam die Nische der Top-Sportler, die diesen Trend starteten. „Die Sammlung hochwertiger Biosensor-Daten ist nach wie vor einen Herausforderung, aber das wesentlich größere Problem ist es, die Daten so aufzubereiten, dass sowohl der Arzt als auch der Patient daraus Maßnahmen ableiten können“, Dr. Richmond. „Man verspricht sich heute sehr viel von Wearables, intelligenten Medikamenten und anderen Sensorsystemen, insbesondere für die Versorgung und Pflege älterer Menschen. Dies wiederum berührt das breitere Thema ‚Internet der Dinge‘. Eine Verbindung aus Wearables, Biosensoren, Sprachassistenten, wie etwa Alexa, und dem Internet der Dinge verspricht nahtlose Gesundheitsversorgung. Doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn die Herausforderung bleibt die gleiche, nämlich Daten so zu strukturieren, dass sie eine Geschichte erzählen, die zu Handlungen und zu Verhaltensänderungen führt.“ Der Experte warnt davor, VR und andere Technologie Hals über Kopf in das Gesundheitswesen zu verpflanzen, denn, so betont er, das Konzept sei noch in der Versuchsphase und liefere noch keine „schnellen Allheilmittel für die Übel der Gesellschaft."
„VR öffnet den Ärzten ein Fenster in den Patienten, das bisher verschlossen war“
Dr. Todd Richmond
„Leistungsanbieter im Gesundheitswesen, genau wie Lehrer, Unternehmer und andere sollten diese neue Technologie als das sehen, was sie ist, nämlich als ein Medium für Kommunikation und Zusammenarbeit, das jedoch zunächst ausprobiert werden muss, damit wir erkennen, wie es funktioniert, wo wir es einsetzen und wie wir es optimieren können“, empfiehlt Dr. Richmond.
Nicht zuletzt verweist er auf die ethische Verantwortung, die wir mit diesem neuen Medium übernehmen. Auch die Produktentwickler, so Richmond, seien in der Pflicht, in der Ethik-Debatte Verantwortungsbewusstsein zu zeigen. Dennoch: VR habe enormes Potenzial und „öffnet den Ärzten ein Fenster in den Patienten, das bisher verschlossen war“, wie etwa die klinische PTBS-App von Dr. Rizzo demonstriere. „Diese App ermöglicht es dem Arzt, schnell eine VR-Umgebung zu schaffen, die die Erinnerungen des Patienten simuliert. Sie hilft nicht nur dem Patienten, sich seinem Trauma zu stellen und es zu bewältigen, sondern sie gibt auch dem Arzt ein Bild an die Hand, auf das er sich in seiner Gesprächstherapie beziehen kann“, so Dr. Richmond.
Profil:
Dr. Todd Richmond ist Leiter des Mixed Reality Lab am Institute for Creative Technologies (ICT) der University of Southern California in Los Angeles. Der gelernte Chemiker, der Multimedia und Webtechnologien in seine Forschung und Lehre integrierte, kam 2006 an das ICT, wo er derzeit die Advanced Prototype Group leitet. Er arbeitet in den Bereichen neue disruptive Technologien und deren Auswirkungen/Anwendung in Lehre, Ausbildung und Betrieb; Kommunikation und Kollaboration in der Zukunft; immersive Technologien; interaktive Ausbildung; Visualisierung und Analytics.
18.04.2018