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Wie man Gedächtniszellen im Gehirn umprogrammiert
Tübinger Neurowissenschaftler prägen Gehirnzellen neu und erforschen so, wie das Ortsgedächtnis funktioniert
Langzeiterinnerungen an bestimmte Orte werden im Gehirn in sogenannten Ortszellen gespeichert. Neurowissenschaftler unter Leitung von Dr. Andrea Burgalossi vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen ist es gelungen, solche Ortszellen „umzuprogrammieren“, indem sie einzelne Neuronen direkt mit elektrischen Impulsen anregten. Nach dieser Stimulation waren die Zellen so „programmiert“, dass ihre Aktivität sich von nun an nur noch auf den Ort bezog, an dem die Stimulation stattgefunden hatte. Die Studie wird in Cell Reports veröffentlicht. Woher wissen wir, was gestern passiert ist, oder voriges Jahr? Wie erkennen wir Orte, an denen wir gewesen sind, Menschen, die wir getroffen haben? Unser Sinn für das Vergangene ist stets verbunden mit dem Wiedererkennen des Gegenwärtigen. Zusammen sind sie der vielleicht wichtigste Baustein unserer Identität. Erst unser Langzeitgedächtnis lässt uns im Alltag funktionieren, von der trivialen Aufgabe, nicht den Weg zum Büro zu vergessen und den Arbeitsbeginn zu versäumen, bis hin zu dem Wissen, wer unsere Freunde und Familie sind.
Es liegt daher nahe, dass unser Gehirn sich auf sehr stabile Strukturen stützt, um Langzeiterinnerungen zu speichern. Ein Beispiel sind Erinnerungen an Orte, die wir einmal besucht haben. Unser Gehirn stellt zu jedem Ort, den wir erstmalig sehen, eine Zahl Neuronen im Hippocampus (eine zentrale Hirnstruktur mit wichtigen Gedächtnisaufgaben) bereit: die Ortszellen. Die Erinnerung an eine bestimmte Umgebung wird als spezifische Kombination von Ortszell-Aktivität im Hippocampus gespeichert: eine „Ortskarte“. Solche Ortskarten bleiben stabil, während wir uns in einer Umgebung bewegen. Kommen wir jedoch an neue Orte, werden die Karten gewissermaßen neu gemischt, so dass für jede Umgebung eine eigene Ortskarte entsteht.
Bisher wusste man wenig über die Mechanismen, die dieser Reorganisation von Ortszellaktivität zugrunde liegen. Im Jahr 2016 hatten Tübinger Neurowissenschaftler unter Leitung von Dr. Andrea Burgalossi bereits zeigen können, dass inaktive, „schlafende“ Ortszellen durch elektrische Stimulation aktiviert werden und zu funktionierenden Ortszellen im Rattengehirn werden können. Die Forschergruppe hat auf dieser Arbeit aufgebaut und nun Hinweise gefunden, dass Ortszellen bei weitem nicht so stabil sind wie gedacht. Sie können sogar „umprogrammiert“ werden.
Wir würden zu gern herausfinden, wie viele Zellen wir mindestens umprogrammieren müssen, um eine echte Erinnerung zu verändern
Andrea Burgalossi
Der weltweit einzigartige Laboraufbau der Forscher nutzt juxtazelluläre Aufzeichnungen und Stimulation in Tieren, die sich in einer Arena im Labor frei bewegen: Bei dieser Methode werden die winzigen elektrischen Ströme entlang einzelner Ortszellen mit haarfeinen Elektroden gemessen bzw. ausgelöst. Mit Hilfe dieses Versuchsaufbaus nahmen sie sich nun einzelne Ortszellen im Mäusegehirn vor und stimulierten diese – allerdings an anderen Orten als denen, auf die sie zuvor mit Aktivität reagiert hatten. In einer signifikanten Zahl der Fälle ließ sich die Aktivität der Ortszellen umprogrammieren. Die Zelle feuerte nun nicht mehr, wenn die Maus den ursprünglich Aktivität auslösenden Ort innerhalb der Arena betrat, sondern nur noch an dem Ort, an dem Stimulation stattgefunden hatte.
„Die Vorstellung, dass Ortszellen stabile Einheiten sind, haben wir damit über den Haufen geworfen“, sagt Andrea Burgalossi. „Sogar innerhalb derselben Umgebung können wir individuelle Zellen umprogrammieren, indem wir an bestimmten Orten stimulieren. Damit sind wir den grundlegenden Mechanismen, auf denen Gedächtnisbildung basiert, ein Stückchen näher.“ In der nahen Zukunft hoffen die Wissenschaftler mehrere Neuronen gleichzeitig umzuprogrammieren, um die Formbarkeit von ganzen Ortskarten zu untersuchen. „Bisher haben wir einzelne Zellen umprogrammiert. Es wäre interessant zu wissen, wie sich das auf die Ortskarte im Gehirn auswirkt. Wir würden zu gern herausfinden, wie viele Zellen wir mindestens umprogrammieren müssen, um eine echte Erinnerung zu verändern.“
Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen
04.04.2018