Artikel • MSK-Diagnostik
„Nicht jeder Rückenschmerz braucht ein Bild“
80 Prozent der Deutschen leiden im Laufe ihres Lebens an Rückenschmerzen. In den meisten Fällen heilen diese von selbst wieder aus. Dennoch erhalten viele Patienten, die beim Hausarzt oder Orthopäden wegen Rückenproblemen vorstellig werden, eine Überweisung zum Radiologen, um eine weiterführende bildgebende Diagnostik zu erhalten.
Bericht: Karoline Laarmann
Warum eine radiologische Untersuchung der Wirbelsäule häufig nicht nur überflüssig ist, sondern sogar schaden kann, weiß Prof. Dr. Martin Wiesmann, Direktor der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Universitätsklinikum RWTH Aachen.
„Nicht alles, was nicht so wie im Anatomiebuch aussieht, ist pathologisch, das heißt krankhaft“, sagt der Spezialist. „Die Wirbelsäule besteht aus vielen einzelnen Segmenten, sodass es bereits bei der Entwicklung im Mutterleib häufig zu Abweichungen kommt. Das meiste davon sind aber Normvarianten, also Unterschiede ohne Krankheitswert. Später dann passt sich der Stützapparat den jeweiligen Herausforderungen des Alltags an und auch das hinterlässt häufig seine Spuren. Mit zunehmendem Alter kommen dann noch die typischen Verschleißerscheinungen hinzu, die ebenfalls ganz normal sind. Im Durchschnitt sind die Patienten, die wegen Rückenproblemen zum Arzt gehen, zwischen 50 und 60 Jahren. Bei jedem Zweiten findet man dann degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und bei jedem Dritten einen Bandscheibenvorfall. Das heißt aber nicht, dass diese Befunde die Ursache für die Beschwerden sind. Eher im Gegenteil.“
Denn die allermeisten Rückenschmerzen sind myofaszial bedingt, also durch eine Funktionsstörung der Muskeln, etwa durch Fehl- oder Überbelastungen. Diese Muskelverspannungen können zwar sehr schmerzhaft sein, verschwinden aber meist nach einigen Tagen oder Wochen wieder von selbst. Auffälligkeiten an der Wirbelsäule, die man unter diesen Umständen in der Bildgebung findet, fallen daher in die Kategorie „Zufallsbefund“. Dazu zählen bis dato unauffällige Bandscheibenvorfälle oder eine Wirbelgelenkarthrose. Ein Radiologe, der in dieser Situation einfach nur alles befundet, was er sieht, provoziert unter Umständen therapeutische Maßnahmen, die gar nicht notwendig sind.
„Deshalb ist es wichtig, nicht nur zu schauen, was sieht anders aus als nach Lehrbuch, sondern was sieht anders aus und kann tatsächlich zu dem spezifischen Beschwerdebild führen, das der Patient hat“, betont Prof. Wiesmann. „Dazu gehört es auch, die Anamnese zu kennen. Im Zweifelsfall frage ich den Patienten selbst, was ihn zu mir führt. Wenn ich dann etwas in der Bildgebung finde, was als Ursache für die vorliegenden Beschwerden gar nicht in Frage kommt, dann schreibe ich das auch so in den Befundbericht.“
Viele radiologische Untersuchungen der Wirbelsäule sind also eigentlich gar nicht notwendig und erzeugen überflüssige Kosten sowie eine unnötige Strahlenbelastung für den Patienten. Eine bildgebende Diagnostik ist nur dann indiziert, wenn die klinische Symptomatik auf eine spezifische Erkrankung verweist. Dies ist der Fall, wenn der Patient entweder unter radikulären Beschwerden leidet, also motorischen oder sensorischen Ausfällen wie Lähmungen oder Taubheitsgefühlen durch eine Reizung der Nervenwurzeln, oder ganz bestimmte klinische Warnhinweise, sogenannte „red flags“, vorhanden sind. Dazu zählen Tumorerkrankungen, starker Gewichtsverlust, Fieber, Nachtschweiß oder auch entzündliche Veränderungen. Solche Warnhinweise können dem Arzt zeigen, dass die Rückenschmerzen nur „die Spitze des Eisbergs“ sind und eine schwerwiegende Grunderkrankung vorliegt.
„Eine weitere „red flag“ ist Rückenschmerz bei Kindern“, ergänzt Prof. Wiesmann. „Das gibt es nämlich in der Regel nicht, außer es gibt einen wirklichen Grund. Die Wahrscheinlichkeit hier etwas zu finden, das auch behandelt werden muss, ist hoch. Das können z. B. Tumoren sein, oder Überlastungsbrüche, die auf eine angeborene Überempfindlichkeit der Wirbelsäule zurückgehen.“
Aus Sicht des Neuroradiologen macht es bei solchen abklärungswürdigen Verdachtsfällen durchaus Sinn, die Erstdiagnostik mit der MRT durchzuführen: „Wenn eine Symptomatik auf einen therapeutischen Handlungsbedarf verweist, kann ich auch direkt eine Bildgebung machen, mit der der Orthopäde oder Chirurg auch etwas anfangen kann. In der CT übersehe ich vieles, was entscheidend ist, wie die Nerven oder Bandscheiben, in der MRT nicht.“
Profil:
Bevor Prof. Dr. Martin Wiesmann im März 2010 zum Direktor der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie an der Uniklinik RWTH berufen wurde, war er Chefarzt der Abteilung Neuroradiologie an den Helios Kliniken Schwerin. Seine Ausbildung zum Radiologen und Neuroradiologen absolvierte er an den Universitätskliniken Lübeck und München-Großhadern. Wiesmann ist u.a. Träger des Eugenie-und-Felix-Wachsmann-Preis 2010 der DRG. Er leitet den Ausschuss für Fort- und Weiterbildung im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) und war diesjähriger Tagungspräsident der Jahresversammlung des Berufsverbandes Deutscher Neuroradiologen (BDNR).
Veranstaltungshinweis:
Freitag, 10.11.2017, 11:15 – 12:00
Zufallsbefunde an der Wirbelsäule
Martin Wiesmann, Aachen
Session: Neuroradiologie II
Congress-Saal
09.11.2017