
Bildquelle: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Foto: Raul Sîmpetru
News • Open-Source-Software MyoGestic
Motorische Fähigkeiten nach Lähmung durch KI wiederherstellen
Ein neues Verfahren soll Menschen mit Nervenschädigungen oder Amputationen dabei helfen, ihre motorischen Fähigkeiten zumindest zum Teil wiederzuerlangen.
Ein KI-Algorithmus wertet dabei die verbliebene Nervenaktivität im beeinträchtigten Körperteil aus und interpretiert sie. Einige Minuten Training genügen oft, um beispielsweise die Finger einer virtuellen Hand oder einer Prothese nach Wunsch zu bewegen. Die an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) entwickelte Methode kann von Forschenden kostenlos genutzt und weiterentwickelt werden. Eine aktuelle Publikation in der Fachzeitschrift Science Advances zeigt, welches Potenzial diese Open-Source-Lösung hat.
Hand- oder Bein-Prothesen, die sich durch Nervenimpulse steuern lassen, gibt es bereits seit einigen Jahren. Es dauert aber oft relativ lange, bis die Betroffenen sie beherrschen. Bei der an der FAU entwickelten Methode läuft dieser Lernprozess deutlich schneller ab. Denn vor ihrem Unfall oder ihrer Erkrankung konnten sich die Betroffenen in der Regel ganz normal bewegen. Sie haben die dazu nötigen motorischen Befehle also über viele Jahre verinnerlicht. Der Ansatz namens „MyoGestic“ versucht, diesen Vorteil zu nutzen.
Kernstück bildet eine Manschette mit 32 Elektroden. Sie kann etwa bei einer Hand-Amputation über den Armstumpf gezogen werden und die Nervenaktivität aufzeichnen. Dieses Erregungsmuster wird dann von einer Software interpretiert und in Bewegungen umgesetzt. „Während der Trainingsphase arbeiten wir dazu mit zwei virtuellen Händen, die auf einem Computer-Bildschirm zu sehen sind“, erläutert Raul Sîmpetru. Der Nachwuchswissenschaftler promoviert an der Professur für Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing von Prof. Dr. Alessandro Del Vecchio. Er teilt sich mit seinem PhD-Kollegen Dominik Braun die Erstautorenschaft der aktuellen Studie. „Eine der Hände macht eine Bewegung vor, die der Patient nachahmen soll. Die andere Hand zeigt dann das Ergebnis der Interpretation durch den KI-Algorithmus.“

Bildquelle: Sîmpetru RC, Braun DI, Simon AU et al., Science Advances 2025 (CC BY 4.0)
Im Idealfall sollten sich beide Hände identisch bewegen. Mit 32 Elektroden lassen sich aber nicht die komplexen Erregungsmuster der motorischen Nerven komplett erfassen. Wenn die Versuchsperson die vorgemachte Bewegung mehrmals hintereinander imitiert, lernt die künstliche Intelligenz aber nach und nach, diese unvollständigen Daten korrekt zu interpretieren. „Wir hatten beispielsweise eine Patientin mit Handamputation, die so innerhalb von fünf Minuten bei der künstlichen Hand nach Wunsch jeden einzelnen Finger krümmen oder strecken konnte“, sagt Sîmpetru.
Natürlich lassen sich mit unserer Methode nicht nur virtuelle Hände steuern, sondern auch eine Computermaus oder eine Prothese
Alessandro Del Vecchio
Selbst bei manchen Menschen mit einer Querschnittslähmung funktioniert diese Methode. Denn häufig werden dabei nicht sämtliche Nervenfasern durchtrennt. Das Gehirn kann also trotz der verletzten Wirbelsäule noch elektrische Signale an die Muskeln senden. Diese sind aber nicht stark genug, um dort die gewünschte Bewegung auszulösen. Die KI kann jedoch lernen, auch diese schwachen elektrischen Impulse korrekt zu interpretieren. „Schwieriger ist es, wenn die Verletzung schon so lange zurückliegt, dass die Betroffenen sich nicht mehr daran erinnern können, welche Befehle sie vom Gehirn an den entsprechenden Körperteil schicken müssen“, erklärt der FAU-Wissenschaftler. „Oder wenn manche Signale einfach nicht mehr korrekt gebildet werden können.“
In solchen Fällen ist es möglich, ein sogenanntes „Remapping“ durchzuführen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass ein Patient den Befehl „krümme den Zeigefinger“ nicht mehr erzeugen kann, den (seltener genutzten) Befehl „krümme den kleinen Finger“ jedoch sehr wohl. Dann lässt sich letzterer für die Kontrolle des Zeigefingers einsetzen. Die betroffene Person muss dazu allerdings lernen, dass das entsprechende Kommando nun nicht mehr den kleinen Finger steuert.
In der Studie konnten die Forschenden zeigen, wie gut ihr Verfahren funktioniert – und das bei ausgesprochen niedrigen Kosten: Für das Training der KI benötigt man lediglich eine handelsübliche elektrodenbestückte Manschette, die nicht individuell angepasst werden muss. „Natürlich lassen sich mit unserer Methode nicht nur virtuelle Hände steuern, sondern auch eine Computermaus oder eine Prothese“, betont Prof. Dr. Del Vecchio. Anders als bei den meisten herkömmlichen Prothesen sind zudem auch fein abgestimmte Bewegungen möglich – zum Beispiel, eine Tomate zu greifen, ohne sie zu zerquetschen.
Die Methode ist quelloffen, darf also ohne Zahlung etwaiger Lizenzgebühren genutzt und weiterentwickelt werden. Die Arbeitsgruppe hat dazu ihre Testprotokolle sowie den von ihr genutzten KI-Algorithmus für jedermann zugänglich ins Netz gestellt. Ziel ist es, das Verfahren dadurch weiter zu optimieren und zur Praxisreife zu bringen, so dass Menschen mit Amputationsverletzungen, Schlaganfällen oder Querschnittslähmungen davon profitieren können.
Quelle: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
15.04.2025