Kinderschutz in der Medizin

Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg ein fächerübergreifendes überregionales Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin gegründet. Heute ab 10 Uhr findet in Ulm die Eröffnungsveranstaltung mit Wissenschaftsministerin Theresia Bauer statt.

Photo: Kinderschutz in der Medizin
Photo: Kinderschutz in der Medizin

Viele Fälle von Missbrauch oder Vernachlässigung bei Kindern in Deutschland haben das Thema Kinderschutz ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Misshandlungen werden häufig bei Arztbesuchen, Klinikaufenthalten oder in einer psychiatrischen/ psychotherapeutischen Behandlung aufgedeckt und behandelt. Wie aber können die medizinischen Einrichtungen Betroffenen im Spannungsfeld von Schweigepflicht und Kindeswohlgefährdung helfen? Auf diese Frage sucht das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg geförderte Kompetenzzentrum, das zu Beginn dieses Jahres auf Empfehlung der Medizinstrukturkommission gegründet wurde, fundierte Antworten.

„In der Kindheit werden die Weichen für Gesundheit und Lebensqualität gelegt. Ich bin froh, dass wir mit dem Kompetenzzentrum Kinderschutz unter der Leitung von Prof. Fegert in Baden-Württemberg eine starke Struktur etablieren, die das Fachwissen im Land systematisch zusammenführt. Neben der Bündelung der Expertise in den Rechtswissenschaften und der Medizin soll den Defiziten in der Ausbildung sowie der Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten begegnet werden. Mit diesem engen Netzwerk der Hochschulmedizin betritt Baden-Württemberg in Sachen Kinderschutz Neuland, knüpft aber auch an die überaus erfolgreiche und innovative Arbeit an der Uniklinik Ulm an“, so Theresia Bauer, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.
Wenn ein Kind wegen einer Verletzung zum Arzt kommt, die den Verdacht auf eine Misshandlung nahe legt, oder bei einer Untersuchung über Misshandlung oder Missbrauch berichtet, bedeutet das für den Arzt eine schwierige Situation: Er muss seine Schweigepflicht erfüllen und dem Kind helfen. Das neue Bundeskinderschutzgesetz gibt dazu seit 2012 erstmals neue Möglichkeiten. „Das ist ein wichtiges Ergebnis der Bemühungen für einen verbesserten Kinderschutz. Durch die Arbeit des Kompetenzzentrums können wir nun auch dafür sorgen, dass die Ärzte und Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen ihre Möglichkeiten und Aufgaben im Kinderschutz besser kennen und umsetzen“, betont Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Sprecher des Kompetenzzentrums und Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. „Wir wollen das Thema Kinderschutz fest in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und im gesamten medizinischen Bereich verankern“, so Fegert.
 
Die Bedeutung dieses Bereichs für den Kinderschutz wurde bei der Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs in Deutschland deutlich, an der von 2010 bis 2011 Bundesministerin a. D. Dr. Christine Bergmann als Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs maßgeblich beteiligt war: „Kinder haben das Recht auf Schutz vor allen Formen von Gewalt. Das erfordert von allen, denen Kinder anvertraut sind, ein fundiertes Wissen, um Verdachtsfälle erkennen, damit umgehen und Kindern helfen zu können. Das Kompetenzzentrum übernimmt für den medizinischen Bereich eine wichtige Rolle. Mögen sich andere Länder und andere Bereiche anschließen.“, so Dr. Bergmann.
 
Der amtierende Nachfolger als Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, der kürzlich seinen Bilanzbericht vorstellte (www.beauftragter-missbrauch.de), unterstreicht die weitere Notwendigkeit einer umfassenden und unabhängigen Aufarbeitung und eines verstärkten Engagements bei der Entwicklung und Anwendung von Schutzkonzepten in Einrichtungen wie Kitas, Schulen, Kinderheimen und auch Krankenhäusern. In Zukunft brauche das Thema einen höheren politischen Stellenwert, auch um nach wie vor vorhandene Defizite in der Beratung und Versorgung von Betroffenen zu beheben.
 
Das Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin vernetzt das Wissen verschiedener medizinischer Fachgebiete aus Einrichtungen in Baden-Württemberg. Eine besondere Rolle spielt dabei die Rechtsmedizin, da hier Missbrauch oder Misshandlungen gerichtsfest dokumentiert werden können. Welche medizinischen und rechtlichen Möglichkeiten es dazu gibt, erläutert Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Pollak, auf der Eröffnungsveranstaltung. Der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg ist mit seiner Einrichtung eine der tragenden Säulen des Zentrums.
 
Auch die Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin hat das Zentrum mit aufgebaut. Prof. Dr. Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik, zugleich Leitender Ärztliche Direktor des Ulmer Universitätsklinikums sowie Vizepräsident der Universität Ulm für Medizin, Gender und Diversity: „Durch die Arbeit im Kompetenzzentrum wollen wir den Ärzten und Mitarbeitern in meiner und jeder anderen Klinik oder medizinischen Einrichtung das Rüstzeug für aktiven Kinderschutz geben. Die Ulmer Expertise im Bereich der Traumaforschung und des Kinderschutzes bündelt sich dabei in idealer Weise mit dem Fachwissen anderer Standorte“, so Debatin. Maßgeblich beteiligt am Kompetenzzentrum sind zudem Prof. Dr. Franz Resch, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg, sowie Prof. Dr. Heiner Fangerau, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin an der Universität Ulm. Hinzu kommen weitere Kooperationspartner aus den Bereichen Kinderschutz und Jugendhilfe im Land.

Auf der Eröffnungsveranstaltung sprechen namhafte Wissenschaftler und Ärzte über rechtliche und rechtsmedizinische Aspekte sowie das Thema Kinderschutz in der Medizinerausbildung. Sie analysieren Fallbeispiele von körperlicher Kindesmisshandlung und widmen sich Fragen zur Selbstmordgefährdung im Zusammenhang mit Missbrauch und Misshandlung. 

 

13.11.2013

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