Artikel • Diagnostische Assistenzsysteme

KI in der Endoskopie: Helfer, Trainer – Influencer?

Artikel: Wolfgang Behrends

Künstliche Intelligenz (KI) fasst auch in der Endoskopie zunehmend Fuß. Die Algorithmen entdecken Pathologien zwar oft schneller als der Mensch, werfen aber auch neue Probleme auf. PD Dr. Alexander Hann (@Alexsworking) bescheinigt den KI-Helfern großes Potenzial. Der stellvertretende Schwerpunktleiter Gastroenterologie am Universitätsklinikum Würzburg gibt jedoch zu bedenken, dass ihr Einsatz nicht nur die Befundung verändern kann – sondern auch den Befunder.

portrait of Alexander Hann
PD Dr. Alexander Hann

Bildquelle: Uniklinikum Würzburg

„Auf dem Papier hat die künstliche Intelligenz von den Besten gelernt. Das heißt, wir bieten ihr nur die besten Daten zum Training an, so dass sie am Ende überdurchschnittliche Leistungen erbringen sollte.“ Die KI arbeitet dabei deterministisch, ist also nicht wie der Mensch abhängig von der Tagesform, sondern liefert zu jeder Zeit Ergebnisse auf gleichem Niveau. Einige Studien deuten auf abnehmende Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf bei einigen endoskopischen Bereichen hin1,2 – „Dieser menschliche Faktor wird durch KI aus der Gleichung genommen.“ 

Andererseits benötige ein Algorithmus eine große Menge an Trainingsdaten, um pathologische Veränderungen zuverlässig zu erkennen. Bei seltenen Erkrankungen sei daher oft der Mensch im Vorteil: „Wir neigen dazu, uns besondere Fälle besser zu merken, und erkennen spezielle Tumorvorstufen leichter wieder, wenn wir einmal negative Erfahrungen damit gemacht haben. Bei der KI ist das nicht so.“

Schreibgehilfe mit Struktur und Stoppuhr

Ein Bereich, in dem die Technologie bereits etabliert ist, ist die Darmkrebsvorsorge. „Die erste Anwendung, die es bereits auf dem Markt gibt, ist eine Polypen-Detektions-Software. Hier schaut die KI mit 30 Bildern pro Sekunde auf das Endoskopiebild wie ein zweites Augenpaar und markiert die Krebsvorstufen, die es entdeckt.“ Eine weitere Anwendung, die gerade in den Startlöchern steht, kann diese Funde interpretieren und gibt eine Prognose ab, ob ein Polyp harmlos bleibt oder tatsächlich zu Krebs führen kann. „Das Interessante ist, dass diese Software keine Wahrscheinlichkeit als Zahl angibt, sondern sie legt sich fest: Entweder wird ein Fund als harmlose Vorstufe eingestuft oder als Adenom, das potenziell zu Krebs werden kann.“ In Fällen, die die KI nicht einschätzen kann, gibt die Software natürlich keine derartige Vorhersage ab. 

KI in der Endoskopie: Helfer, Trainer – Influencer?

Darstellung eines Darmpolypen, hervorgehoben durch eine KI zur Polypendetektion, entwickelt in der Arbeitsgruppe InExEn am Universitätsklinikum Würzburg. 

Bildquelle: Alexander Hann

Großes Potenzial für KI-Unterstützung sieht Hann bei der Erstellung von Befundberichten – eine wenig anspruchsvolle Aufgabe, die allerdings viel Zeit kostet. Bei endoskopischen Untersuchungen ist hier insbesondere die Bestimmung der sogenannten Rückzugszeit eine Herausforderung: „Theoretisch müssten wir sogar mit einer Stoppuhr die Zeiten, die wir für die Polypenentfernung benötigen, von der Gesamtrückzugszeit abziehen, um zu messen, wie lange man die Schleimhaut beurteilt hat“, erklärt der Experte. „Das ist natürlich nicht wirklich realistisch. Daher sind wir der Meinung, künstliche Intelligenz könnte dort zum einen helfen, diese Zeiten zu bestimmen und zum anderen zumindest erste Ansätze eines standardisierten Befundberichts zu schreiben.“ 

Die Etablierung von Standards wird jedoch dadurch erschwert, dass fast alle großen Hersteller eigene KI-Lösungen haben, was wiederum auf Unterschiede bei den Endoskopen selbst zurückgeht, erklärt Hann: „Die Modelle arbeiten mit verschiedenen Lichtquellen und Bildsensoren, und auch der Bildausschnitt ist immer ein bisschen anders – manche haben runde Ecken, andere wiederum nicht. Daraus ergibt sich ein immer anderes Bild. Dementsprechend schwierig ist es, die darauf ausgelegten KIs miteinander zu vergleichen.“

Bewegte Bilder verlangen nach Kontext

Für das Training einer KI zur Polypenerkennung ist es meist nicht sinnvoll, mit alten Daten zu arbeiten

Alexander Hann

Für das Training der KI reicht es allerdings nicht aus, den Algorithmus mit Bildern bisheriger Funde zu füttern, gibt Hann zu bedenken – denn Standbilder aus alten Archiven zeigen Polypen nicht in ihrem Urzustand: „Wenn ein Polyp entdeckt wird, ist er meist von einer Schleimkappe bedeckt. Für das Foto wird diese Kappe aber entfernt und der Polyp in der Mitte des Bildes positioniert – so sieht er aber nicht aus, als er entdeckt wurde. Das heißt, für das Training einer KI zur Polypenerkennung ist es meist nicht sinnvoll, mit alten Daten zu arbeiten.“ 

Das ‚Anlernen‘ der KI mithilfe von Videosequenzen hat zwar den Vorteil, dass Polypen so gezeigt werden, wie sie auch bei einer endoskopischen Untersuchung zu sehen wären – doch die Bewegtbilder bringen auch neue Herausforderungen mit sich: „Viele der derzeitigen KI-Systeme interpretieren die 30-50 Bilder pro Sekunde, die sie verarbeiten, jedes Mal neu.“ Da ihnen der Kontext fehlt, können sie nicht unterscheiden, ob ein entdeckter Polyp neu ist – oder derselbe, den sie bereits vor wenigen Sekunden gesehen haben. „Das ist derzeit noch Gegenstand von Forschungstätigkeit“, berichtet Hann. „Kommerziell verfügbare KIs mit Gedächtnisleistung gibt es bislang nicht.“ Aktuell erfolgt die Einordnung regelbasiert, um solche Wiederholungsfunde zu vermeiden. Doch auch videotypische Störungen wie Unschärfe durch Flüssigkeiten auf der Linse und Lichtreflexe stellen die KI vor Herausforderungen. „Das ist nicht ganz einfach, denn solche Effekte können bisweilen auch menschliche Befunder täuschen. Eine zentrale Aufgabe ist es also, die zugrunde liegenden Regeln immer weiter zu verfeinern.“

Diese Heatmap zeigt die Augenbewegungen von erfahrenen Befundern (obere Reihe)...
Diese Heatmap zeigt die Augenbewegungen von erfahrenen Befundern (obere Reihe) und Neulingen (untere Reihe) beim Betrachten einer Videoaufnahme – wärmere Farben signalisieren eine stärkere Konzentration auf den jeweiligen Bereich. Unter Zuhilfenahme einer KI-Befundhilfe (computer-aided detection; CADe) achteten die Teilnehmer weniger auf Bereiche, die nicht vom Programm markiert wurden; sie verließen sich auf das Urteil der KI (rechte Spalte).

Bildquelle: Troya et al., Endoscopy 2022 (CC BY-NC-ND 4.0)

Verführen KI-Kästen zur Trägheit?

Hann hält die Verwendung von KI-Helfern in der Endoskopie jedoch keinesfalls für eine Einbahnstraße: Die von ihm geleitete Forschungsgruppe für interventionelle und experimentelle Endoskopie (InExEn) geht aktuell der Frage nach, ob die Nutzung von KI-Tools Auswirkung auf das Verhalten der Befunder hat.3 „Diese Einflussnahme ist wenig erforscht. Wir haben Produkte auf dem Markt, die von der Industrie zur Verfügung gestellt wurden, und wir setzen sie auch ein. Dabei haben wir aber wenig Verständnis dafür, was sie eigentlich mit uns machen.“ 

So untersuchte die InExEn-Gruppe das Verhalten von Befundern, denen Videos endoskopischer Untersuchungen in zwei Varianten gezeigt wurden – mit und ohne KI-generierte Detektionsboxen. „Dabei stellten wir fest, dass sich die Augenbewegungen veränderten, wenn die KI-Markierungen zugeschaltet waren: Die Befunder suchten den Monitor nicht so gründlich nach Polypen ab. Wir leiten daraus die Vermutung ab, dass der Untersucher sich – zumindest ein Stück weit – auf die KI verlässt.“ 

Hann plädiert daher dafür, unerfahrene Endoskopiker zunächst ohne Assistenzsysteme arbeiten zu lassen, damit diese eigene Expertise sammeln können. „Das ist ein bisschen wie beim Navigationssystem im Auto“, gibt er zu bedenken: Wer gewohnt sei, den Anweisungen des Navis zu folgen, laufe Gefahr, den Schildern entlang der Strecke kaum noch Beachtung zu schenken. „Das ist meiner Meinung nach eine Gefahr, der wir uns zumindest bewusst sein sollten. Bislang gibt es kaum Forschung zum Einfluss von KI auf den Menschen. Das sollten wir ändern, bevor wir diese Systeme flächendeckend einsetzen.“

Abschied von der Black Box

Dennoch ist Hann überzeugt, dass die Technologie auch zur Verbesserung der Ausbildung eingesetzt werden kann: „Wenn uns die KI selbst zeigt, worauf sie achtet und Beispiele gibt, ließe sich das nuten, um unerfahrene Kollegen besser zu trainieren.“ Dies wäre zugleich ein Schritt zu mehr Transparenz, blickt der Experte hoffnungsvoll voraus – denn bislang lassen sich die Befundungskriterien des Algorithmus kaum nachvollziehen. 


Quellen: 

  1. Brennan et al.: Does time of day affect polyp detection rates from colonoscopy?; Gastrointestinal Endoscopy 2011
  2. Lee et al., Endoscopist fatigue estimates and colonoscopic adenoma detection in a large community-based setting; Gastrointestinal Endoscopy 2017
  3. Troya et al.: The influence of computer-aided polyp detection systems on reaction time for polyp detection and eye gaze; Endoscopy 2022

18.10.2022

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