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Frühgeborenenversorgung: Afrika im Ungleichgewicht
Nirgendwo entscheidet der Wohnort für ein Frühgeborenes mehr über Leben und Tod als in Afrika. Mit Privatkliniken, Krankenversicherungen und Känguruhen soll die noch immer dramatisch hohe Zahl an Neugeborenensterblichkeit gesenkt werden.
Autor: Koen Paredis, Managing Director, Middle East and Africa, Dräger
Am Tag, als Halima Cissé aus Mali ihre neun Babys zum ersten Mal sieht, werden in Afrika 1000 Kinder geboren – und sterben. Halima Cissés Babys leben. Die Neunlingsgeburt in Marokko hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Neun Frühgeborene, die in Afrika ihre ersten Tage und Wochen überleben, ein Wunder. Die Frau aus Timbuktu in Mali wurde in der 27. Schwangerschaftswoche in die Ain Borja Klinik in Casablanca gebracht, zur besseren Versorgung der erwarteten Siebenlinge. Marokko oder Mali – das kann für ein Baby einen Unterschied machen. Wenn es keine 1000 Gramm wiegt, sogar zwischen Leben und Tod.
Nach aktuellen Schätzungen sterben jährlich vier Millionen Babys vor ihrem ersten Geburtstag, über eine Million davon in den ersten vier Lebenswochen.1 Während der menschlichen Lebensspanne ist der Tag der Geburt mit dem größten Sterberisiko verbunden. Von den zehn Ländern der Welt mit der höchsten Neugeborenenmortalität liegen acht in Afrika.2 Und nirgendwo auf dem Kontinent ist dieses Risiko so hoch wie in den wirtschaftlich schwachen Ländern Liberia, Elfenbeinküste oder Mali. Meist wegen unzureichender mütterlicher und neonataler Versorgung.
Drei Wochen lang wurde Halima Cissé so intensiv wie möglich betreut, um die Entbindung so lange wie möglich zu verzögern. Jeder weitere Tag im Mutterleib steigert die Überlebenschancen. Die neue Klinik Ain Borja, 2019 eröffnet, ist Teil der Akdital Holding Group, einem wichtigen Akteur im privaten Gesundheitswesen in Marokko. Akdital macht den Zugang zu medizinischer Versorgung zu einer Priorität ihrer Mission in Marokko und verfügt über ein Netzwerk von fünf multidisziplinären und spezialisierten Gesundheitseinrichtungen in den großen Städten des Landes. Die Klinik in Casablanca war von dem malischen Arzt von Halima Cissé um Unterstützung gebeten worden, da man hier über Erfahrung im Umgang mit Mehrlingsschwangerschaften verfügt. Da der Kindsvater beim malischen Militär arbeitet, war die Finanzierung des Vorhabens, die Schwangere nach Casablanca zu fliegen und dort zu versorgen, kein Thema.
Mostafa Mouchafi arbeitet seit dem späten 1990er Jahren für die regionale Dräger-Zentrale in Marokko und hat erlebt, wie sich die Versorgung von Frühgeborenen in der nordafrikanischen Region entwickelt hat. „In den 90er Jahren war die Neonatologie fast nicht existent. Heute sieht man deutlich die Entwicklung der Neonatologie in der Region, aber sie ist zweigeteilt: in Nordafrika werden viele Ressourcen für die Entwicklung dieses Sektors eingesetzt – etwa durch den Bau neuer Universitätskrankenhäuser und die Erhöhung der Zahl der Kliniken. Im Gegensatz dazu ist in der südlichen Sahara-Region noch immer keine neonatale Infrastruktur vorhanden, es gibt keine Fachärzte, der staatliche Sektor ist weniger entwickelt, der private Sektor ist fast nicht existent. Die Konsequenz: eine immer noch sehr hohe Sterblichkeitsrate.“
Hohe Aufmerksamkeit, aber noch immer hohe Sterblichkeit
Die Zahlen von UNICEF stützen seine Beobachtungen: Statistisch gesehen stehen die Überlebens-Chancen für ein Kind in Subsahara-Afrika mit Staaten wie Liberia, Elfenbeinküste und Mali am schlechtesten. Von 1.000 Kindern, die lebend geboren werden, sterben im weltweiten Durchschnitt 38 Mädchen und Jungen vor ihrem fünften Geburtstag, aber 76 von 1.000 Kindern in Subsahara-Afrika.3 Zu den häufigsten Todesursachen der Neugeborenensterblichkeit zählen in Mali wie auch in vielen anderen afrikanischen Ländern mit schlechter Gesundheitsversorgung Frühgeburten (28,8 Prozent), Geburtskomplikationen (29 Prozent) und Sepsis (22 Prozent). Zum Vergleich: In Marokko sank die Neugeborenensterblichkeit auf unter 18 von 1.000, die Unter-Fünf-Sterblichkeitsrate liegt mittlerweile bei unter 27 – im Jahr 2000 lag sie noch bei über 50.4
Die Vereinten Nationen planen, diese Zahlen weiter drastisch nach unten zu bringen: Bis zum Jahr 2030 soll die Neugeborenensterblichkeit auch in den Staaten Afrikas auf weniger als 12 von 1000 Lebendgeburten sinken. Die einzige Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, ist die qualitative und flächendeckende Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Neugeborene. Mehr als 80 Prozent der Todesfälle könnten den Vereinten Nationen zufolge durch gut ausgebildete Hebammen, Maßnahmen wie sauberes Wasser und Desinfektionsmittel sowie Aufklärung übers Stillen und Hautkontakt unmittelbar nach der Geburt verhindert werden. Die Gesundheitssysteme müssten darüber hinaus so umgestaltet werden, dass eine qualitativ hochwertige Versorgung und eine kontinuierliche Betreuung von Neugeborenen – insbesondere von schwerkranken Kindern – gewährleistet ist. Erreicht werden könnte dies etwa durch institutionelle Partnerschaften.
Halima Cissés Babys brachten schwierige Voraussetzungen mit. In Erwartung von sieben angekündigten Babys arbeitete das Krankenhaus eng mit Dräger zusammen, um diese große Aufgabe zu meistern. Die Neugeborenenintensivstation wurde um einige Medizingeräte erweitert, die Neonatalbeatmungsgeräte Babylog 8000 plus, Babylog VN500 und VN600 sowie Isolette 8000 standen bereit. „Es bestand dringender Unterstützungsbedarf“, erzählt Dräger-Mitarbeiter Mouchafi, der sowohl die Krankenhausmitarbeiter und als auch die hinzugebetenen Ärzte auf die Beatmung von Neugeborenen vorbereitete und in die Geräte einwies. „Wir sind eine moderne Klinik“, bekräftigt Dr. Youssef Alaoui, Direktor der Klinik Ain Borja, „aber das Wissen über Frühgeburten ist in unserer Region insgesamt sehr mangelhaft.“
Nach 30 Wochen Schwangerschaft wurden Halima Cissés Kinder zur Welt geholt – überraschenderweise zwei mehr als angekündigt. Fünf Töchter, vier Söhne. Alle Neun am Leben, klein und zart, aber stabil. Kadidia, Fatouma, Hawa, Adama und Oumou, Mohamed, Bah, Oumar und Elhadji. Die Neonaten aber mussten mit Unterstützung von drei Kinderärzten intubiert und beatmet werden – mit unterschiedlichen Modi von der nichtinvasiven über die konventionelle Beatmung bis hin zur Hochfrequenz-Oszillationsbeatmung (HFOV) zur Verbesserung des pulmonalen Gasaustausches. Dräger-Mitarbeiter Mouchafi schulte, schulte und schulte. Halima Cissé pumpte Milch ab, kuschelte beim Känguruhen mit ihren Kindern und dankte Gott für die große Familie, die sie sich immer gewünscht hat.
Quellen
1 https://www.who.int/pmnch/media/publications/aonsection_I.pdf
2 https://www.dw.com/de/pakistan-hat-die-höchste-säuglingssterblichkeit-der-welt/a-42651943
4 https://www.countdown2030.org/country-profiles-1?Areas=Mali
Autor: Koen Paredis ist Managing Director, Middle East and Africa, Dräger
10.03.2022