© Diakoneo KdöR
Artikel • Mehrwert von klinisch eingesetzten Webcams in der Neonatologie
24/7 on – die Kinder immer auf dem Schirm
Man könnte meinen, der Einsatz von Webcams in der Neonatologie sei ein Projekt der jüngeren Vergangenheit oder gehöre zum Spektrum des Digital Health Portfolios mit direktem Patientenbezug. Weit gefehlt. Schon 1989 sammelte Prof. Dr. Roland Wauer an der Charité Berlin mit einem aus dem Baumarkt stammenden „Selfmade-System“ erste Erfahrungen bei der Übertragung von Bildern aus der Frühgeborenenstation.
Artikel: Manuela Giesel
Der Markt für das derzeit einzige System in Europa ist groß. Allein im Jahr 2020 kamen in Deutschland insgesamt 60682 Kinder zu früh zur Welt. Nicht nur bei Frühchen in der Neonatologie finden die Webcams mittlerweile ihren Einsatz. Sie werden auch auf Kinderintensivstationen, Mutter-Kind Einheiten oder, seit der Corona-Pandemie, auch bei Patienten, die eine atemunterstützende Therapie benötigen, eingesetzt.
Wie funktioniert das Babywatch-System?
Die speziellen Webcams ermöglichen Eltern, ihr Kind auf dem Handy, Tablet oder Computer rund um die Uhr live sehen zu können. Digitalisierung kann damit einen großen Schritt zur aktiven Bindung zwischen Eltern, Geschwistern oder Großeltern beitragen. Das klingt zunächst widersprüchlich, weiß man doch, dass die sensible Phase des Bondings durch körperliche Nähe, Herzschlag und den Duft der Neugeborenen den Grundstein für eine starke Bindung legt. Doch auch wenn die Geburt und die Stunden danach nicht so sind wie erwartet, ist gelungenes Bonding möglich. Es gibt einige Faktoren, die diesen Beziehungsaufbau auch später noch positiv beeinflussen, so zum Beispiel das entspannte Beobachten von Mimik, Gestik oder den kleinsten Bewegungen des Kindes und der besondere Genuss dieser Momente. Das Kamera-System ergänzt und stärkt dabei den Beziehungsaufbau: „Wir wissen inzwischen durch Studien, unter anderem von Prof. Dr. Hans Proquitté von der Universität Jena, dass es auch für die Milchproduktion der Mutter enorm wichtig ist, das Kind sehen zu können“, so der Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Diakoneo Diak Klinikum, Professor Dr. Andreas Holzinger. In der Klinik wurden im November 2021 zwölf Kameras für das sogenannte Baby-TV installiert.
Praxiseinsatz des Systems
Das Kamerasystem wird über dem Inkubator mithilfe eines flexiblen Kameraarms angebracht und überträgt Livebilder. Dabei ist die Kamera vergleichsweise klein. Über einen passwortgeschützten Zugang können die Eltern nun mobil unterwegs oder zu Hause am Bildschirm ihr Kind sehen bzw. live streamen. Die versendeten Daten werden dabei sicher über 256-Bit-SSL-Verschlüsselung ausgetauscht. Vorgaben zur Datenspeicherung, die der Datenschutzgrundverordnung bei der Benutzer- und Kameraverwaltung entsprechen, werden beim Datentransfer über den Verwaltungsserver, der in einem deutschen Hochleistungsrechenzentrum steht, berücksichtigt. Die eigentliche Übertragung zeigt Bilder in Echtzeit, allerdings ohne den Transfer von Umgebungsgeräuschen aus den Zimmern der Stationen. Das ist besonders für das klinische Umfeld ein wichtiger Aspekt. Am Tag findet die Übertragung in Farbe und in der Nacht schwarz-weiß statt. Im übertragenen Bildausschnitt sehen Eltern und Angehörige den Kopfbereich des Kindes und einen Teil des Thorax. Pflegepersonen können dann über eine Kontrollleuchte erkennen, ob die Kamera aus ist oder ob die Eltern gerade „babywatchen“.
Kein High ohne Low
Es gab durchaus Bedenken, ob hier eine Art der Kontrolle eingeführt werde und ob damit eventuell auch die Zahl besorgter Anrufe von Eltern zunehme
Andreas Holzinger
Zunächst klingt das alles grundpositiv: „Bei der Vorstellung der Idee in unserem Team am Perinatalzentrum wurde uns allerdings nicht nur Freude und Begeisterung gespiegelt. Es gab durchaus Bedenken, ob hier eine Art der Kontrolle eingeführt werde und ob damit eventuell auch die Zahl besorgter Anrufe von Eltern zunehme. Kommen die Eltern dann nicht mehr in die Klinik, weil sie zu Hause vor dem Bildschirm sitzen? Alles berechtigte Fragen. Deshalb hospitierten Menschen unterschiedlicher Professionen aus unserem Team an der Klinik bei meinem Kollegen Privatdozent Dr. Matthias Henschen. Dort arbeitet man bereits seit mehr als zwei Jahren mit Babywatch“, erklärt Chefarzt Holzinger. Bei der Hospitation sprang der Funke über und die Bereitschaft, mit dem Kamera-System zu arbeiten, fand eine breite Mehrheit. Allerdings waren da noch die Anschaffungs- und Folgekosten, die im laufenden Klinikbetrieb und insbesondere im ohnehin schon kostenintensiven pädiatrischen Bereich für die Kliniken nicht unerheblich sind. Im Beispiel wurde die Anschaffung und Finanzierung von ca. 25.000 Euro über gezielte Fundraising-Maßnahmen der Klinik und durch die Unterstützung des angeschlossenen Fördervereins der Kinderklinik ermöglicht.
Zu früh geboren in der Corona-Pandemie
Mit großem Selbstverständnis und hoher Expertise kümmern sich bundesweit speziell ausgebildete Pflegefachkräfte, Ärztinnen und Ärzte 24/7 auf den Kinderintensivstationen um die kleinen Patienten, falls deren Start ins Leben anders als geplant oder viel zu früh beginnt. Die Einhaltung von Corona-Regeln in den Kinderkliniken haben dabei überall große Auswirkungen auf Frühgeborene, Eltern und Geschwister. Wegen der Pandemie wurde in vielen Ländern der Körperkontakt zwischen Eltern und ihren Babys in den Krankenhäusern stark eingeschränkt, das mahnte auch die WHO in Genf an. Das zeigt sich parallel auch am Beispiel von Michelle Wunderlich. Sie wurde inmitten der vierten Corona-Welle zum ersten Mal Mutter. Die 37-jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin hatte im November 2021 Zwillinge entbunden. Nach einer diagnostizierten Schwangerschaftsvergiftung kamen Ella und Paul rund acht Wochen zu früh zur Welt. Direkt nach der Entbindung überschlugen sich die Ereignisse. Die Kinder kamen sofort auf die Intensivstation und fehlten der Mutter: „Es war ein schlimmes Gefühl – ich hatte große Angst um das Leben meiner Kinder. In der ersten Zeit nach dem Kaiserschnitt haben mir die Kinder in meinem Bauch regelrecht gefehlt, ich war nicht mehr komplett.“
Unglaublich viele Fragen beschäftigen Mutter und Vater: Wie geht es meinen Kindern im Inkubator? Sind sie unruhig? Schreien oder schlafen sie gerade? Bewegen sie sich? Mit den Kameras hatten sie die Möglichkeit, mit beiden Kindern in Verbindung zu sein. Eigene Ängste aber auch die der Großeltern wurden geringer und schufen für die Familie damit eine neue Form der Verbindung. Nach wenigen Tagen und unter Einhaltung aller Corona-Regeln konnte Michelle Wunderlich mit ihrem Mann zu Ella und Paul. Erste körperliche Kontakte konnten stattfinden, was bewegende Momente für die jungen Elternwaren, denn die Familie lebt weit entfernt von der Klinik, eine Großmutter sogar in einem anderen Land. Ein Zwilling stabilisierte sich schneller und konnte kurz vor Weihnachten mit den Eltern nach Hause, das andere Kind musste jedoch noch längere Zeit in der Klinik verbringen.
Es gibt viele Höhen und Tiefen bei der Versorgung von Frühgeborenen. Mit Babywatch können Eltern wie die Wunderlichs sorgenvolle Momente oder Entwicklungsschritte mit Geschwisterkindern und Verwandten teilen. So ermöglichen diese Bilder Begleitung und Nähe. „Trotz meiner täglichen Besuche in der Kinderklinik war ich froh, zu Hause mein Kind über die Kamera sehen zu können. Es verringert das Gefühl der Distanz und ich hatte nicht mehr den Eindruck, für ein Kind mehr da zu sein als für das andere“, meint Michelle Wunderlich.
© Diakoneo KdöR
Was sagt die Wissenschaft?
Prof. Proquitté von der Universitätsmedizin in Jena sah in der Studie, die er während seiner Zeit an der Berliner Charité durchführte, vor allem psychologische Vorteile beim Einsatz des speziellen Kamera-Systems. Eltern hätten häufig das Gefühl, sie seien schuld oder gar verantwortlich, dass ihre Kinder zu früh geborenwerden. Durch das Baby-Fernsehen fühlen sich Eltern ihren Kindern näher und eine der Sorgen des Klinikpersonals wird mit dem Einsatz der Webcams sogar ins gerade Gegenteil verkehrt, denn die Eltern besuchen ihre Kinder, laut Studie, häufiger. Grund dafür sei, dass die Eltern frühzeitig durch das Streamen ihres Nachwuchses eine Beziehung zu ihrem Kind in der Klinik aufbauen und das den Wunsch nach persönlichem, „hautnahem“ Kontakt zu den Kindern sogar erhöhe. Ein weiterer Aspekt: Eltern sind sich oft nicht sicher, ob es ihren Kindern wirklich gut geht und wollen es möglichst häufig sehen, um sich rückzuversichern. Auch diesem Gesichtspunkt trägt das Kamera-System Rechnung. „In der Literatur gibt es inzwischen einzelne Erwähnungen, dass Babywatch das frühe Bonding unterstützt, allerdings noch ohne eine wissenschaftliche Beweisführung der Wirksamkeit“, ergänzt Holzinger. Da scheint die Studie der Universität Köln unter Leitung von Privatdozentin Dr. Nadine Scholten mehr als willkommen und weckt große Erwartungen. Ihr Team vom Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft forscht seit mehr als drei Jahren unter Einbeziehungen von vier Kliniken an diesem Thema. Die Ergebnisse werden für den Sommer 2023 erwartet. Es bleibt spannend.
Profil:
Manuela Giesel ist Leiterin der Abteilung Gesundheitskommunikation und Fundraising am Diakoneo KdöR.
Dieser Beitrag erschien zuerst in KU Gesundheitsmanagement, 2022, Heft 09
27.02.2023