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Forscher erschaffen komplexe Organoid-Kombination
Es ist ein Durchbruch in der Forschung für neuromuskuläre Entwicklung und Erkrankungen: Erstmals sind im Labor aus einem Typ von Vorläuferzellen zwei menschliche Gewebearten hervorgegangen, die gemeinsam ein funktionsfähiges neuromuskuläres Organoid bilden.
Die Arbeitsgruppe von Dr. Mina Gouti am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz Gemeinschaft (MDC) hat funktionsfähige neuromuskuläre Organoide (NMO) entwickelt, die sich selbstständig in Rückenmarksneuronen und Muskelgewebe organisiert haben. Die beiden Zelltypen bilden gemeinsam ein komplexes neuronales Netzwerk, das Muskelgewebe kontrahieren lässt. Diese Organoide stellen Forschende in der Fachzeitschrift Cell Stem Cell vor.
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Fortbewegung entsteht, wenn ein komplexes neuronales Netzwerk rhythmische Muster von neuronaler Aktivität generiert. Störungen in diesem Netzwerk führen zu unheilbaren neuromuskulären Erkrankungen, Lähmung und Tod. Bislang gab es kaum verlässliche humane Zellkulturmodelle, die es erlauben Krankheiten des neuromuskulären Systems zu erforschen.
Mit einigen einzigartigen Eigenschaften sind die Organoide ein attraktives Untersuchungsmodell. Eine Schlüsseleigenschaft ist die Entwicklung der motorischen Endplatten, das sind die Verbindungsstellen zwischen Neuronen und Muskelzellen und Übertragungsort für Signale, die zu Bewegungen führen. Innerhalb der Organoide sind zum ersten Mal Rückenmarksneuronen, Skelettmuskeln und Schwann-Zellen gleichzeitig aus denselben Vorläuferzellen entstanden, sowie motorische Endplatten. Außerdem entwickelte sich ein komplexer Schaltkreis, der die Zentrale Mustergeneratoren-Schaltungen (ZMG) nachahmt, indem er oszillierende rhythmische Signale aussendet, die wesentlich für das Atmen und Laufen sind.
„Unser ursprüngliches Ziel bestand darin, die motorische Endplatte zu entwickeln. Was wir gefunden haben übertraf jedoch unsere Erwartungen – das zusätzlich ZMG-artige Netzwerke entstanden sind, ist eine aufregende, aber unerwartete Entdeckung“, sagt Gouti, Leiterin der Arbeitsgruppe „Stammzellen-Modellierung der Entwicklung und Erkrankung“. „Bisher wurde so etwas noch nicht an einem menschlichen in vitro-Modell gezeigt. Es eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten, wie etwa die Erforschung der ZMG innerhalb von neurodegenerativen Erkrankungen.“
Indem man das Potenzial von Stammzellen mit der Organoid-Technologie verknüpft, entstehen aus neuromuskulären Organoiden spannende Forschungsmodelle für Krankheiten oder für Entwicklungsstudien
Jorge-Miguel Faustino Martins
Organoide sind vereinfachte organartige Strukturen in Miniaturformat, erschaffen im Labor. Herstellungstechniken aus unterschiedlichen Gewebearten wurden im letzten Jahrzehnt weiterentwickelt. Ein einzelnes Organoid, das aus zwei sich gleichzeitig entwickelnden Gewebearten besteht, blieb jedoch lange eine große Herausforderung: Um die motorische Endplatte zu erforschen, wurden beispielsweise Rückenmarksneuronen und Muskeln zunächst getrennt voneinander gezüchtet. Dann führte man sie zusammen, damit sie miteinander interagieren konnten. So haben sich zwar Verbindungen gebildet, die jedoch nur eingeschränkt funktionierten, teilweise lag das am Fehlen der essenziellen Schwann-Zellen.
„Kombiniert man einzelne Muskel- oder Neuronen-Systeme miteinander, kommt man schnell an seine Grenzen“, sagt Jorge-Miguel Faustino Martins, Erstautor und Biotechnik-Doktorand in Goutis Arbeitsgruppe. „Das ist nicht zu vergleichen mit dem, was im Embryo geschieht, wo sich beides gleichzeitig entwickelt. Indem man das Potenzial von Stammzellen mit der Organoid-Technologie verknüpft, entstehen aus neuromuskulären Organoiden spannende Forschungsmodelle für Krankheiten oder für Entwicklungsstudien. So können wir die Bildung komplexer neuromuskulärer Schaltkreise in Echtzeit in einer 3D-Mikroumgebung analysieren, die jener in einem Embryo näher kommt.“
Um diese Herausforderung zu meistern, machten Gouti und Kollegen von einer früheren Entdeckung Gebrauch: Pluripotente humane Stammzellen in axiale Stammzellen umwandeln. Von den axialen Stammzellen ist bekannt, dass sie während der normalen Embryonalentwicklung sowohl Rückenmark als auch Skelettmuskulatur ausbilden. Der gewünschte Typ axialer Stammzellen waren in diesem Fall neuromesodermale Vorläuferzellen.
In einer 3D-Zellkultur differenzierten sich die Stammzellen aus und organisierten sich von selbst zu komplexen Strukturen, die aus Rückenmarksneuronen und Skelettmuskelgewebe bestehen. So entwickelten sich motorische Endplatten mit terminalen Schwann-Zellen und komplexe spinale neuronale Netzwerke, ähnlich der zentralen Mustergeneratoren (ZMG).
„Auffällig ist, dass sich die beiden unterschiedlichen Gewebe in 3D selbst organisierten und funktionale Netzwerke entwickeln können“, sagt Gouti. „Diese Organoide kontrahierten nach 40 Tagen in der Zuchtkultur. Ihre Aktivität beruht nicht etwa auf spontaner Muskelaktivität, sondern auf dem Neurotransmitter Azetylcholin, der von örtlichen Motoneuronen abgesondert wird. Das wurde deutlich, als wir die Azetylcholin-Rezeptoren pharmakologisch blockierten, was die Muskelkontraktion unterband.“
Die Organoide wachsen zu einer Größe von durchschnittlich 6 Millimetern Durchmesser heran und können für etliche Monate im Labor am Leben erhalten werden, ohne dass sich ihr Zustand verschlechtert. Die gegenwärtig ältesten neuromuskulären Organoide existieren seit eineinhalb Jahren in Zuchtkultur. Wichtig ist: Analysen haben gezeigt, dass neuromuskuläre Organoide mit ähnlicher Effizienz aus unterschiedlichen menschlichen pluripotenten Stammzelllinien gebildet werden können. Dieser breite Ansatz eignet sich insbesondere für die Erforschung neuromuskulärer Erkrankungen und nutzt dabei induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) von Patienten.
Das Potenzial von NMO als Forschungsmodell für neuromuskuläre Erkrankungen, testeten die Wissenschaftler anhand einer Autoimmunerkrankung: Bei Myasthenia Gravis ist die Signalübertragung an der motorischen Endplatte gestört. Behandelten die Forschenden Organoide 72 Stunden lang mit dem Serum von zwei Patienten, führte dies zu weniger Muskelkontraktionen, was die Muskelschwäche der Erkrankten wiederspiegelt. „Dieses Ergebnis fasst Schlüsselaspekte der Krankheitssymptomatik zusammen und legt nahe, dass neuromuskuläre Organoide zuverlässig neuromuskuläre Erkrankungen modellieren können“, so Dr. Simone Spuler, eine der Co-Autorinnen der Veröffentlichung und Leiterin der Arbeitsgruppe „Myologie“.
Die unterschiedlichen genetischen Ursachen und das variable Auftreten von lähmenden neuromuskulären Erkrankungen, wie etwa die Spinale Muskelatrophie oder Amyotrophe Lateralsklerose, waren eine große Herausforderung, um patientenspezifische Therapien zu entwickeln. „Die Verwendung von NMO mit iPS-Zellen von Patient*innen ermöglicht uns in Zukunft, die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten zu untersuchen. Diese Organoide sind besser als herkömmliche geeignet, die Rolle bestimmter Zelltypen während der Bildung und Reifung der motorischen Endplatte zu erforschen – beispielsweise die der terminalen Schwannzellen bei der Entwicklung von bestimmten Krankheiten“, sagt Gouti. Zukünftige Studien werden patientenbasierte neuromuskuläre Organoide nutzen, um die Wirkung von unterschiedlichen Arzneimitteln festzustellen und individualisierte medizinische Ansätze zu verfolgen.
Quelle: Max-Delbrück-Center für Molekulare Medizin (MDC)
21.01.2020