Artikel • Verwendung von Gesundheitsdaten
eAkte: Geht Datenschutz vor Patientenwohl?
„In Deutschland geht der Datenschutz im Zweifel vor Gesundheits- und Lebensschutz“, empört sich Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Eigentlich lautete der Titel seines Vortrages bei der Medica 2020 „EU-weite Verwendung von Gesundheitsdaten – Chancen und Risken“, doch in der anschließenden Diskussion landete er schließlich bei den in seinen Augen überzogenen Datenschutzregelungen in Zusammenhang mit der geplanten Elektronischen Gesundheitsakte.
Bericht: Michael Krassnitzer
„Zuerst muss der Patient bei seiner Krankenkasse um eine elektronische Akte ersuchen. Dann muss er bei jedem Arztbesuch, bei jedem Apothekenbesuch, bei jedem Krankenhausaufenthalt immer wieder neu zustimmen, dass die dort erhobenen Daten in seine Akte eingespeist werden. Und dann muss er für jedes einzelne Dokument entscheiden, wer wo wann zugreifen darf“, begründete er seinen Vorwurf. „Das wird nicht funktionieren“, ist Gerlach überzeugt. In Frankreich jedenfalls habe man versucht, eine elektronische Patientenakte nach diesem Funktionsprinzip einzuführen – und sei gescheitert.
Sollte die Elektronische Gesundheitsakte aufgrund der datenschutzrechtlichen Hürden in Deutschland ein Flop werden, so würde dies Gerlachs eigentlichem Anliegen großen Schaden zufügen: der EU-weiten Verwendung von Gesundheitsdaten. Hinter dieser Wendung verbirgt sich nämlich nichts anderes als der länderübergreifende Austausch von elektronischen Patientenakten. „Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Urlaub in Italien, haben plötzlich starke Bauchschmerzen und gehen zu einem örtlichen Arzt. Oder sie arbeiten in Österreich und kommen nach einem Verkehrsunfall in eine dortige Klinik. Oder Ihr Kind hat einen komplizierten Herzfehler und soll einem bekannten Spezialisten in Straßburg vorgestellt werden“, beginnt Gerlach seinen Vortrag auf der weltgrößten Gesundheitsmesse: In diesen Fällen wäre es doch günstig, wenn Informationen über Allergien, Vorerkrankungen, Medikation (z. B. blutverdünnende Medikamente), radiologische Bilder oder Laborwerte (z. B die Nierenfunktion betreffend) verfügbar wären. „Dazu braucht man grenzüberschreitende digitale Lösungen“, bekräftigt der Allgemeinmediziner und Public-Health-Experte.
Europäische Spielregeln definieren
Eine derartige digitale Lösung steht auf zwei zentralen Pfeilern: einer interoperablen elektronischen Patientenakte und einer technischen Infrastruktur, in der diese Patientenakten sicher gespeichert und ausgetauscht werden können. Die ersten Vorbereitungen dafür sind bereits angelaufen: Die EU-Kommission hat im Februar des Vorjahres ein europäisches Austauschformat für elektronische Patientenakten empfohlen und es wird auch bereits an einem europäischen Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) gearbeitet.
Wir können nicht warten, bis wir das perfekte System haben oder uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben
Ferdinand M. Gerlach
In Gerlachs Augen besteht dringender Handlungsbedarf, damit Europa international nicht von der Entwicklung überrollt werde: „Wir wollen ja weder kommerzielle Datenoligopole wie in den USA, wo einige wenige Firmen diese Daten als Kapital betrachten, noch eine staatliche Datenallmacht wie in China.“ Beides sei nicht mit europäischen Vorstellungen vereinbar. Aus europäischer Sicht müsse in Hinblick auf die elektronische Patientenakte das Patientenwohl an erster Stelle stehen. Entscheidend dabei sei die richtige Balance zwischen dem Potenzial von Digitalisierung und Datennutzung auf der einen Seite und dem Schutz personalisierter Daten vor Missbrauch auf der anderen Seite. „Wir müssen europäische Spielregeln definieren“, fordert Gerlach.
Das gehe natürlich nicht mit einem einzigen Schritt, räumt der Mediziner ein: „Wir können nicht warten, bis wir das perfekte System haben oder uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben“, bekräftigt er. Stattdessen sei es angebracht, iterativ – also Schritt für Schritt – voranzugehen: „Wir müssen zulassen, dass Fehler passieren und aus diesen Fehlern lernen.“
Natürlich müsse der Datenschutz gewährleistet sein, bekennt Gerlach – und zwar auf Basis der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). „Die DSGVO ist weit besser als ihr Ruf“, meint Gerlach: „Sie ist im Grunde nämlich schon Ausdruck einer europäischen Werteordnung.“ Das Problem dabei sei nur, dass die einzelnen EU-Mitgliedsländer die Verordnung sehr unterschiedlich auslegen. „Wir brauchen einen europaweit gültigen Verhaltenscodex, der Nutzung und Austausch von Gesundheitsdaten regelt“, fordert Gerlach. Deutschland müsse jedenfalls eine neue Balance finden zwischen Datenschutz bzw. Datensicherheit und Gesundheits- bzw. Lebensschutz. Fehlentwicklungen, wie sie hierzulande zu beobachten seien, müssten in Hinkunft vermieden werden. Als Beispiel für eine solche Fehlentwicklung nennt Gerlach die Corona-Warn-App. Diese sei aufgrund überzogener Datenschutzregelungen ein „stumpfes Schwert“.
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Für elektronische Patientenakten wünscht sich Gerlach ein „zweifaches Opt-out“: Statt immer wieder Zustimmungen („Opt-in“) zu erteilen, sollten die Patienten nur über zwei Punkte grundlegend entscheiden: Wer die elektronische Akte nicht will, braucht sie nicht zu nutzen. Und wer nicht will, dass seine Daten für Forschungszwecke verwendet werden, kann sein Veto einlegen. „Standardeinstellung sollte allerdings sein, dass jene Daten, die solidarisch finanziert und erhoben werden, auch für die Forschung genutzt werden können“, betont Gerlach. Er fügt aber auch hinzu: „Ich weiß, dass ein solches zweifaches Opt-out im Moment in Deutschland politisch nicht durchsetzbar ist, aber in diese Richtung müssen wir gehen.“
EU-weite Verwendung von Gesundheitsdaten – Chancen und Risken, Medica 2020, ECON Forum; 16.11.2020
Profil:
Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, MP, ist seit August 2004 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Der Arzt, der Humanmedizin an der Universität Göttingen sowie Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public Health) an der Medizinischen Hochschule Hannover studierte, ist seit 2012 Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Zu seinen Schwerpunkten gehören Qualitätsförderung in der ambulanten Versorgung, Evidenzbasierte Medizin in der Praxis, Versorgungsforschung und Digitalisierung im Gesundheitswesen.
19.11.2020