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Die Wirbelsäulenchirurgie hat ihren Schrecken verloren
„Die Wirbelsäulenchirurgie ist in den letzten Jahren immer schonender und effektiver geworden“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Claudius Thomé, Direktor der Universitätsklinik für Neurochirurgie der Medizinischen Universität Innsbruck (Österreich). Es werde zunehmend Augenmerk auf den Erhalt der anatomischen Strukturen gelegt, etwa in der Bandscheibe oder auch bei der Muskulatur, die die Wirbelsäule umgibt. „Spezielle minimal-invasive Operationsverfahren, bei denen über Minischnitte auch Entlastungen des Wirbelkanals oder Versteifungen möglich sind, setzen sich zunehmend durch“, unterstreicht der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Wirbelsäulenchirurgie (ÖGW).
Report: Michael Krassnitzer
Aufgrund neuer Erkenntnisse, neuer Operationstechniken und des technologischen Fortschrittes wird die spezialisierte Ausbildung in der Wirbelsäulenchirurgie immer wichtiger.
Prof. Dr. Claudius Thomé
Unter dem Stichwort Minimal Access Spine Technology (MAST) werde die Zielregion meist über Trokarsysteme (Punktionsinstrumente, die den Zugang ermöglichen und offenhalten) schonend erreicht. „Derartige Eingriffe sind dadurch mit deutlich weniger Komplikationen verbunden als früher und haben ihren Schrecken verloren“, erklärt Thomé. In Kombination mit der fortwährenden Verbesserung der Narkosetechniken sind so Eingriffe bis ins hohe Alter möglich. Dies wird der demografischen Entwicklung und den zunehmenden Ansprüchen der älteren Patienten in Bezug auf Lebensqualität und Mobilität gerecht.
Entscheidend für die Etablierung der schonenderen Operationstechniken war und ist der technische Fortschritt im Operationssaal. Operationsmikroskope oder kameragestützte Visualisierung erlauben eine anhaltende Verkleinerung des operativen Zugangs bei immer besserer Detaildarstellung des Operationsgebietes. Die spinale Navigation ermöglicht die computerunterstützte Einbringung von Implantaten mit hoher Präzision. Mithilfe der intraoperativen Bildgebung kann das Operationsergebnis noch am „offenen“ Patienten überprüft werden. „Dies verbessert das Operationsergebnis und verhindert Reoperationen“, bekräftigt der Neurochirurg: „Schrauben und andere Implantate werden technisch weiterentwickelt und können minimal-invasiv eingebracht werden. All diese Faktoren münden letztendlich in bessere Behandlungsresultate.“ Das alles setze jedoch voraus, dass Operateure sich entsprechend weiterbilden und die erforderlichen Kompetenzen erwerben, um mit diesen Entwicklungen Schritt halten können.
In dieselbe Kerbe schlägt Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Ogon vom Orthopädischen Spital Speising in Wien und ab September Präsident der Europäischen Wirbelsäulengesellschaft (EuroSpine): „Aufgrund neuer Erkenntnisse, neuer Operationstechniken und des technologischen Fortschrittes wird die spezialisierte Ausbildung in der Wirbelsäulenchirurgie immer wichtiger“, erklärte Ogon anlässlich der „Summer University“ in Wien, eines von dem Medizintechnik-Anbieter Medtronic und der International Group for Advancement in Spinal Science (IGASS) alljährlich organisierten Fachkongresses mit rund 300 Teilnehmern in diesem Jahr. Ogon verweist auf das European Spine Diploma von EuroSpine, das dafür sorgen soll, dass die Basisausbildung für Wirbelsäulenchirurgie in Europa vereinheitlicht wird und überall die gleichen Standards gelten.
Zurück zur Wirbelsäulenchirurgie selbst, deren aktuellen Stand Thomé vor Journalisten in Wien referierte: „Auch das Verständnis der Wirbelsäulenchirurgen im Hinblick auf die Statik und die Biomechanik der Wirbelsäule hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Während früher bei Versteifungsoperationen auf die Stellung der Verschraubungen kaum geachtet wurde, wissen wir inzwischen, welche Bedeutung das vertikale Profil der Wirbelsäule besitzt.“
Die Zukunft der Wirbelsäulenbehandlung liegt in Thomés Augen jedoch in regenerativen Therapiestrategien: „Ziel muss es sein, die natürliche Abnutzung der Bandscheiben beziehungsweise der gesamten Wirbelsäule zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Molekularbiologische Erkenntnisse beispielsweise zu Stammzellen und Wachstumsfaktoren werden uns in der Zukunft erlauben, die Alterungsprozesse zu beeinflussen.“ In einer aktuellen klinischen Studie an der Medizinischen Universität Innsbruck werden derzeit Bandscheibenzellen aus Bandscheibenvorfällen gezüchtet und den Patienten nach drei Monaten wieder eingespritzt. Erste Ergebnisse sind in ein bis zwei Jahren zu erwarten.
Profil:
Univ.-Prof. Dr. Claudius Thomé ist seit 2009 Direktor der Universitätsklinik für Neurochirurgie der Medizinischen Universität Innsbruck (Österreich) und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Wirbelsäulenchirurgie (ÖGW). Der in München geborene Neurochirurg studierte Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Stanford University School of Medicine (USA). Nach 13 Jahren an der Neurochirurgischen Klinik der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, zuletzt als stellvertretender Klinikleiter, kam er schließlich vor sechs Jahren nach Innsbruck. Thomés Forschungsschwerpunkte sind Subarachnoidalblutung und zerebraler Vasospasmus, Tissue Engineering bei degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule, evidenzbasierte und minimal-invasive Wirbelsäulenchirurgie, sowie intensivmedizinisches Neuromonitoring und Neurotraumatologie.
12.08.2016