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CMT: Unerwarteter Helfer gegen tödliche Nervenkrankheit
Mit rund zwei Millionen Betroffenen auf der ganzen Welt ist Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT) die häufigste erbliche Erkrankung des peripheren Nervensystems, allein in Deutschland sind etwa 30.000 Fälle bekannt. Bislang galt die Krankheit als unheilbar, doch nun haben Forscher in Göttingen eine mögliche Therapie für CMT entdeckt: Lecithin, eigentlich ein harmloses Nahrungsergänzungsmittel, könnte neue Behandlungsoptionen eröffnen.
Quelle: UMG/MPI-EM
Die Ergebnisse der Studie, die die Forscher des Max-Planck-Instituts für Experimentelle Medizin (MPI-EM) Göttingen und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) in enger Kooperation durchgeführt haben, wurden im renommierten Wissenschaftsjournal „Nature Communications“ veröffentlicht.
Ein Gendefekt, der die Verdopplung des Gens für PMP22 bewirkt, löst bei CMT-Patienten eine langsam fortschreitende Nervenschädigung aus, die als CMT1A bezeichnet wird. Erste Symptome sind unter anderem motorische Schwierigkeiten oder Verformungen des Fußes und können bereits im Kindesalter auftreten. Später kommen Sensibilitätsstörungen wie Taubheit, Kribbeln und Schmerzen hinzu, die Betroffenen verlieren allmählich die Kraft in Beinen und Armen, manche Patienten sind dadurch auf den Rollstuhl angewiesen. Da die grundlegenden Erkrankungsmechanismen unbekannt sind, stand bislang keine Behandlung gegen Charcot-Marie-Tooth zur Verfügung, die mit einer Häufigkeit von 1:2.500 als seltene Erkrankung gilt.
Die vielversprechenden Daten prädestinieren Lecithin als Therapeutikum für die CMT-Erkrankung und möglicherweise auch andere demyelinisierende Erkrankungen
Michael Sereda
Eine Schlüsselrolle in der Forschung der Göttinger nehmen die sogenannten Schwannzellen ein: Dabei handelt es sich um Stützzellen, die eine isolierende Hülle um die Axone – Fortsätze von Nervenzellen im peripheren Nervensystem – bilden. Diese fettreiche Hülle, die auch als Myelin bekannt ist, ermöglicht die schnelle Weiterleitung elektrischer Impule innerhalb des Nervensystems.
Mit Hilfe von genetisch veränderten Ratten haben Forscher des MPI-EM und der UMG in Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern aus Leipzig, Würzburg, Heidelberg und Aachen entdeckt, dass erkrankte Schwannzellen während der Entwicklung wegen eines gestörten Fettstoffwechsels nicht ausreichend Myelin bilden können. „Die Myelinproduktion ist für die Schwannzellen sehr aufwendig. Bei einer Störung wie der Charcot-Marie-Tooth Erkrankung bleiben viele Nervenfasern ohne Myelin, und sind damit in ihrer Funktion beeinträchtigt.“ erklärt der Erstautor der Studie, Dr. rer. nat. Robert Fledrich, Institut für Anatomie der Universität Leipzig und Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin.
Quelle: UMG/MPI-EM
Mit Lecithin ließe sich womöglich die beeinträchtigte Fettproduktion der Schwannzellen umgehen und damit die Myelinisierung bei der Erkrankung verbessern, denn es ist ein Hauptbestandteil des Myelins. Das Fettmolekül ist ein aus Soja oder Eigelb gewonnener Mix aus sogenannten Phospholipiden, ein harmloses Nahrungsergänzungsmittel. In der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Netzwerkverbundes „CMT-NET“ geförderten Studie konnten die Wissenschaftler zunächst in Zellkulturexperimenten sowie in genetisch veränderten Ratten zeigen, dass Phospholipide von Schwannzellen aufgenommen und für die Myelinproduktion genutzt werden können.
Durch mehrere Therapiestudien von erkrankten Ratten mit Lecithin in unterschiedlichen Dosen und Behandlungszeiträumen haben die Forscher nicht nur herausgefunden, dass eine Phospholipid-Therapie die Myelinisierung fördert. „Sie lindert auch maßgeblich den Krankheitsverlauf, und zwar unabhängig vom Behandlungsbeginn“, sagt Dr. Ruth Stassart, Oberärztin der Abteilung Neuropathologie der Universität Leipzig, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin, und Co-Leiterin der Studie. „Die vielversprechenden Daten aus den Tierversuchen und insbesondere die bereits erwiesene gute Verträglichkeit in Menschen prädestinieren Lecithin als Therapeutikum für die CMT-Erkrankung und möglicherweise auch andere demyelinisierende Erkrankungen“, ergänzt Prof. Dr. Michael Sereda, Oberarzt an der Klinik für Klinische Neurophysiologie der UMG, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut und Seniorautor der Studie. Die beteiligten Neurowissenschaftler arbeiten nun daran, die neu gewonnenen Erkenntnisse für Patienten im Rahmen von klinischen Studien nutzbar zu machen.
Quelle: Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität
10.08.2018