Artikel • PICS-Studie
„Die Nachsorge von Intensivpatienten muss verbessert werden“
Versorgungsmodelle, die über die Reha-Leistungen hinausgehen und auf einen kontinuierlichen Übergang von der intensivmedizinischen Behandlung zur Nachsorge abzielen, sind in Deutschland derzeit nicht etabliert. Eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Christian Apfelbacher, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin der Universität Regensburg, entwickelt derzeit ein Konzept für eine Intensiv-Nachsorgeambulanz (INA).
„Das vorgeschlagene Projekt soll die Versorgung von Patienten nach prolongierter Behandlung auf der Intensivstation (ITS) verbessern und so die Versorgungslücke im Übergang von der intensivmedizinischen Behandlung zur Nachsorge schließen“, beschreibt Professor Apfelbacher die Forschungsabsichten. Eine prolongierte Intensivtherapie führt häufig zu chronischen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, auch bezeichnet als „Post Intensive Care Syndrom“ (PICS). „Diese Bezeichnung beschreibt auf der Patientenseite neue oder sich verschlechternde physische (pulmonal, neuromuskulär, physisch funktional), kognitive (z.B. Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen) und psychische (Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Depression) Beeinträchtigungen, die nach einer intensivmedizinischen Erkrankung auftreten und über die Behandlung im Krankenhaus hinaus bestehen bleiben“, erläutert Apfelbacher.
Wünschenswert wären für diesen Bereich Versorgungsmodelle, die über die Leistungen der Rehabilitationseinrichtungen hinausgehen und maßgeschneidert den Patienten in die Post-ITS Phase begleiteten
Christian Apfelbacher
„Eine kontinuierliche umfassende Diagnostik sowie bedarfsgerechte multidisziplinäre Versorgung bei einer intersektoralen Koordination der Versorgungsleistungen erscheinen für Patienten nach einem ITS-Aufenthalt unerlässlich“, führt Apfelbacher aus. Seine Begründung: erstens schätzen die Patienten selbst eine solche koordinierte, bedarfsgerechte medizinische Versorgung nach der Entlassung als förderlich ein. Zweitens könnte damit auch der hohe Anteil an Patienten, die nach der Entlassung erneut stationär aufgenommen werden müssen, vermindert werden: „Wünschenswert wären für diesen Bereich Versorgungsmodelle, die über die Leistungen der Rehabilitationseinrichtungen hinausgehen und maßgeschneidert den Patienten in die Post-ITS Phase begleiteten.“
„Continuum of care“
Patienten, die nach einem längeren Intensiv-Aufenthalt entlassen werden, sind in den meisten Fällen noch nicht vollständig genesen und deshalb auf Hilfe angewiesen. Daher richtet das Studienprojekt sich außer an Patienten explizit auch an deren Angehörige, denn „auch sie sind von der anhaltenden Morbidität betroffen. Mögliche Folgen können PTBS, Depression, Angst- und Anpassungsstörungen sein. In der neueren Literatur wird bei einer solchen psychopathologischen Reaktionen der Angehörigen auch von einem „Angehörigen-PICS“ (PICS-A) gesprochen“, erklärt Apfelbacher.
Jedoch sei die nach Entlassung bzw. Verlegung persistierende psychische und körperliche Morbidität bislang nicht ausreichend in der Versorgung adressiert. Hier setzt die Studie an. Die Arbeitsgruppe will Versorgungsbedarf und -bedürfnisse von Patienten und Angehörigen mithilfe von Primär- und Sekundärdaten spezifizieren und auf deren Grundlage das Konzept der INA aufbauen. „Durch die INA sollen die Abläufe - Koordination der therapeutischen Leistungen, fachspezifische Weiterüberweisungen, Kontakt zum Hausarzt, Einbindung der Angehörigen – verbessert und so die bestehende Versorgungslücke geschlossen werden“, beschreibt Apfelbacher die Ziele des Projektes, das gemeinsam mit Professor. Thomas Bein von der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Regensburg durchgeführt wird.
Partizipativer Ansatz der Studie
In die Studie werden erwachsene Patienten einbezogen, die länger als fünf Tage intensivmedizinisch behandelt, eine Organersatztherapie erhalten sowie eine prognostizierte Lebenserwartung von mehr als sechs Monaten haben. Im ersten Schritt werden mittels leitfadengestützter Interviews bei Patienten und ihren Angehörigen die Situation nach Verlegung von ITS, die Inanspruchnahme des Versorgungssystems sowie bestehende Versorgungsbedürfnisse erforscht. Die Rekrutierung von je ca. 25 Patienten plus Angehörigen erfolgt als zielgerichtete, bzgl. Alter, Geschlecht und Krankheitsschwere stratifizierte Quotenauswahl über die Zugänge der beteiligten Konsortialpartner. Parallel erfolgt zur Erfassung des objektiven Versorgungsbedarfs eine Analyse von Routinedaten der AOK Bayern.
Die an der Versorgung beteiligten Akteure werden in Fokusgruppendiskussionen zu ihrem Kenntnisstand über den Versorgungsbedarf, zu ihrer Sicht auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der intersektoralen und -disziplinären Zusammenarbeit sowie ihren Erwartungen an die praktische Umsetzbarkeit der INA befragt. Durch das Gruppensetting und die entstehende Dynamik bei der Interaktion sollen Themen und Äußerungen evaluiert werden, die über die im Leitfaden vorgesehenen Inhalte hinausgehen. Dabei sind fünf Fokusgruppendiskussionen mit jeweils bis zu acht Teilnehmern vorgesehen. Innerhalb einer Gruppe werden Interdisziplinarität und -sektoralität durch eine heterogene Zusammensetzung des Teilnehmerkreises im Hinblick auf Ausbildung und beruflichen Hintergrund sichergestellt. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, entwickelt die Studiengruppe ein Konzept für eine partizipative Intensiv-Nachsorgeambulanz. Diese wird im zweiten Schritt in einem Modellprojekt geprüft. 100 Patienten werden hierfür in zwei gleichgroße Gruppen aufgeteilt, wobei die eine in der Nachsorgeambulanz behandelt wird, während die andere die übliche Versorgung erhält. Zur Erfolgsmessung werden die Daten der Patientengruppen auf bestimmte Parameter hin miteinander verglichen und weitere Befragungen durchgeführt. Die Forschungsfragen betreffen die Machbarkeit der INA, die Akzeptanz durch die Patienten und die Auswirkungen von einer INA hinsichtlich der körperlichen und psychischen Lebensqualität.
Durch den partizipativen Ansatz bei der Konzeptentwicklung stellt das Thema der Übertragbarkeit auf die Versorgungssituation im Alltag einen inhärenten Bestandteil dar. „Den Fokus der Ambulanz sehen wir dabei in Untersuchung, Diagnostik und Koordination der therapeutischen Leistungen, wobei die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und Therapeuten elementarer Baustein der Ambulanz sein wird“, erklärt Professor Apfelbacher abschließend.
Profil:
Prof. Dr. Christian Apfelbacher PhD hat 2003 sein Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München (HfPh) mit dem Magister Artium abgeschlossen. 2006 erwarb er den Master of Science in Public Health der London School of Hygiene and Tropical Medicine (DLSHTM). 2008 promovierte Apfelbacher zum Doctor scientiarum humanarum an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg, 2013 zum Doctor of Philosophy (PhD) an der Brighton & Sussex Medical School. Im gleichen Jahr erlangte er die Lehrbefähigung im Fachgebiet Medizinische Soziologie. Seit März 2014 ist Apfelbacher als Professor für Medizinische Soziologie am Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin der Universität Regensburg tätig.
14.03.2018