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Artikel • Zulassung von Medizinprodukten

Geht die Medical Device Regulation an der Realität vorbei?

Spätestens ab 2020 müssen Medizinprodukte Hersteller die Wirksamkeit ihrer Geräte wesentlich aufwendiger nachweisen

Bericht: Brigitte Dinkloh

Seit im März 2010 der Skandal um die fehlerhaften PIP-Brustimplantate in Frankreich aufgeflogen war, wurde in der Europäische Union vielfach eine Verschärfung der Zulassungsvorschriften für Medizinprodukte gefordert und diskutiert. Am 25. Mai 2017 ist die neue Verordnung Medical Device Regulation (MDR) nun offiziell in Kraft getreten und sie wird nach einer dreijährigen Übergangszeit in allen EU-Staaten ab dem 26. Mai 2020 verpflichtend anzuwenden sein. Die neue Verordnung stellt Zulassungsbehörden und insbesondere mittelständische und kleine Hersteller in der Medizintechnikbranche vor große Probleme. Christoph R. Manegold, Gesellschafter der AC Aircontrols am Niederrhein und Initiator des bundesweiten Netzwerks MDR Competence, wünscht sich daher mehr gesunden Menschenverstand bei der Umsetzung der neuen Verordnung und insbesondere längere Übergangsfristen, um diesen Kraftakt stemmen zu können.

Nicht nur sicher, sondern auch wirksam

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Christoph R. Manegold ist Gesellschafter der AC Aircontrols am Niederrhein und Initiator des bundesweiten Netzwerks MDR Competence.

„Die Nervosität im Hinblick auf die neue Verordnung ist im Mittelstand naturgemäß größer als bei den globalen Playern, deren Abteilungen sich seit längerem vorbereiten konnten. Für den Mittelstand ist die MDR gleich aus zwei Gründen schwierig. Zum einen werden für neue Produkte die Zulassungsvoraussetzungen deutlich erhöht, denn nach der neuen Rechtslage muss nun die klinische Wirksamkeit des Produkts wesentlich aufwendiger nachgewiesen werden“, schildert der Diplom-Ingenieur.

Bislang ging es bei der Zulassung von Medizintechnik vor allem um die Patientensicherheit. Es wurden sehr viele Normen geschaffen, damit während der Anwendung, Patienten, Nutzer oder Dritte nicht zu Schaden kommen konnten. Die Frage, ob das Produkt auch in dem Sinne wirkt, wie es versprochen wird, wurde dabei je nach Risikoklasse mit deutlich niedrigerer Priorität betrachtet. Wo man bislang den Nutzennachweis über Simulationen oder Literaturbetrachtungen abgedeckt hat, werden nun klinische Studien erforderlich sein. Manegold: „Was wir früher einfach als Risikomanagement bezeichnet haben - initial nur auf das Gerät bezogen, dann als Risikomanagement über den Produktlebenszyklus (Norm DIN EN ISO 14971) –und sich vor allem auf die technische Sicherheit bezog, wird jetzt um die Datenerhebung zur Wirksamkeit in Studien erweitert werden müssen und zwar nicht nur zum Zeitpunkt der Produktzulassung, sondern kontinuierlich.“ Darauf sind die mittelständischen Hersteller, die einen Marktanteil von 80 Prozent in Deutschland haben, aber nicht vorbereitet.

Studien auch für langjährige Produkte im Markt

Ich rechne mit Mehrkosten von 10-15 Prozent bei den Medizingeräten

Christoph R. Manegold

Die zweite Hürde, die sich den Herstellern nun auftut, ist die Vorgabe, dass dies auch für alle Altgeräte gelten soll, die sich bereits seit Jahren auf dem Markt bewährt haben. „Das ist das ganz große Übel und meiner Meinung nach eine ungerechtfertigte Belastung. Selbst bei Geräten, bei denen nie ein Zwischenfall gemeldet wurde, müssen nun u.U. nachträglich klinische Daten geliefert werden. Und wenn die Hersteller das nicht nach MEDDEV 2.7.1 über Literatur machen können, was viele versuchen werden, dann schickt sie der Gesetzgeber tatsächlich für ein Gerät, das Dekaden alt ist, im Worstcase-Szenario in eine Studie“, beklagt Manegold.

Die Hersteller haben dafür kein Personal und keine Erfahrung. Und die Aufsichtsbehörden nicht die Ressourcen, diese Studien alle gleichzeitig zu prüfen und zu überwachen. Ganz zu schweigen von den Mehrkosten, über die bislang so gut wie gar nicht gesprochen wird. Diese werden auf den Verkaufspreis aufgeschlagen werden müssen. Christoph Manegold schätzt: „Das Gesundheitswesen wird nach Ablauf aller Übergangsfristen finanziell zusätzlich strapaziert werden, ich rechne mit Mehrkosten von 10-15 Prozent bei den Medizingeräten, abhängig von der Risikoklasse und der Stückzahl.“ Medizinische Verbrauchsgüter (disposables), die hunderttausendfach laufen, werden davon weniger betroffen sein, als ein Diagnosesystem, das nur 100 Mal pro Jahr gebaut wird.

Literaturweg wird schwieriger

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die 4. Revision die MEDDEV 2.7.1. massiv verschärft hat. Sie erfordert ein viel intensiveres Arbeiten und bestimmt die Äquivalenzkriterien neu. Wenn es auf dem Markt kein System gibt, das zu 100 Prozent dem Eigenen entspricht, im Hinblick auf den intended use (auch zweckbestimmung genannt), die Einstellwerte und die Diagnostikmöglichkeiten, dann ist der Literaturweg verschlossen. „Es können nur noch Äpfel mit Äpfel verglichen werden. In der Vergangenheit wurde die Leitlinie etwas praktikabler ausgelegt. So konnten u.U. mehrere Geräte für den Vergleich herangezogen werden, doch zukünftig kann der Hersteller nur noch mit Geräten vergleichen, die er schon auf dem Markt hat, denn welcher Wettbewerber wäre schon bereit der Konkurrenz den Zugang zur technischen Dokumentation und seinen Updates zur Verfügung zu stellen? Hier hat der Gesetzgeber etwas formuliert mit dem Wissen, das es nicht praktikabel ist, also wird der Hersteller klinische Studien für die Zulassung liefern müssen.“

MDR ignoriert Problem der Anwendersicherheit

Ingenieur Manegold kritisiert, dass in der MDR die wirklich bestehenden Probleme nicht aufgegriffen werden. Denn die meisten Meldungen zu Zwischenfällen beziehen sich auf Anwenderfehler. Und diese werden nach Manegolds Einschätzung mit der neuen Verordnung nicht abgestellt. So funktioniere bei zehn Beatmungsgeräten keines wie das andere. Anders als z. B. in der Automobilbranche, wo der Nutzer sich darauf verlassen könne, dass ein Auto überall auf der Welt ähnlich bedient werden kann, wird es diese Sicherheit bei Medizintechnikgeräten auch weiterhin nicht geben. „In der neuen Verordnung sind nun pharmaähnliche Zulassungswege abgebildet, im Hinblick auf die Anwendersicherheit wird sie keinen Erfolg bringen“ ist sich der Consultant sicher.

Das Problem der Notified Body

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Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Medzinprodukteverordnung 2017 nicht nur auf der Herstellerseite, sondern gleichzeitig auch auf der Seite der zulassenden Stellen die Anforderungen hochgesetzt hat. Seit dem 26.11.2017 gilt die MDR auch für die Benennenden Behörden und Benannten Stellen. Sie beinhaltet eine Neubenennung (Re-Akkreditierung) aller Benannten Stellen mit „Joint Assessments“ für Erstbenennung, Verlängerungen und Erweiterungen des Geltungsbereichs und diese wird vermutlich etwa 18 Monate dauern. Die Hersteller wissen somit erst im kommenden Jahr 2019, ob ihre benannte Stelle weiterhin existiert und für ihre Produkte zuständig ist. Die Anzahl der benannten Stellen wird wohl weiter abnehmen, bzw. werden diese ihren Geltungsbereich einschränken müssen und schon jetzt nehmen sie kaum neue Kunden mehr an. Auch die Zulassungsbehörden suchen händeringend qualifiziertes Personal, um die neuen Anforderungen umsetzen zu können.

Lösungen für den Mittelstand

Da der vom Bundesverband Medizintechnik (BVMed) geforderte Rettungsschirm für die mittelständische Medizintechnikindustrie (KMU) wohl nicht kommen wird, müssen die betroffenen Hersteller selbst aktiv und kreativ werden. Der Experte sieht kein europaweites Sterben von kleinen mittelständischen Unternehmen, aber viele neue Zusammenschlüsse bzw. zunehmende M&A Aktivitäten. Um zu vermeiden, dass man von den Großen geschluckt wird, sollten sich Mittelständler in einer speziellen Branche mit ähnlichen Produkten in Netzwerken zusammenschließen. Consultant Manegold: „Es geht nicht darum, sich gegenseitig das IP strittig zu machen, sondern z.B. gemeinsam einen Mediziner für die Studien zu finanzieren. Wie beim Car Sharing greift man dann auf den gemeinsamen Pool zurück und kann so erhebliche Kosten einsparen und profitabel bleiben.“

Forderungen an die Politik

Insgesamt sind Manegold und seine Kollegen von der MDR enttäuscht: Es ist ein unfertiger Text in einer unfertigen Umgebung, der sehr viel Platz für Interpretationen lässt. Der eigentliche Versuch der Harmonisierung der benannten Stellen ist nicht erreicht worden. Unsere Forderung lautet daher: „Die MDR muss mit klarem Menschenverstand überarbeitet, die Übergangsfristen verlängert werden und Produkte, die schon auf dem Markt sind, müssen anders bewertet werden als in der MDR vorgesehen: Besonders bei risikoarmen Geräten ohne behördliche Meldungen sollte - wie in den USA - ein Bestandschutz bestehen und Hilfsmittel, wie die Eudamed Datenbank, sollten zur Einführung der neuen Verordnung auch fertig sein, was aktuell kaum zu erwarten sein wird.“


Profil:

Christoph R. Manegold absolvierte das Studium zum Ingenieur Biomedizintechnik und später den Master of Science an der European Business School. Initial arbeitete er zunächst als Entwicklungsingenieur später als Technischer Leiter für die Heyer Gruppe in Bad Ems. Bereits 1995 gründete er zusätzlich sein eigenes Ingenieurbüro MT-Consult. Der unternehmerische Fokus von MT-Consult lag und liegt in der Entwicklung von Elementen für lebensunterstützende Systeme in Anästhesie und Beatmung. Von 2006 bis 2012 hat er für die Pulsion Medical Systems AG in München erst als Entwicklungsleiter und später als Vorstand die Entwicklung der Firma international vorangetrieben. Im Jahr 2010 übernahm Manegold die Mehrheit an AC Aircontrols und in 2012 Anteile an der Nano4Imaging GmbH. Der Ingenieur ist verheiratet und lebt in Düsseldorf.

MDR Competence 

MDR Competence ist ein non-profit Netzwerk, das zur Medica 2017 gegründet wurde mit dem Ziel, Bewusstsein für die anstehenden Herausforderungen durch die Medizinprodukteverordnung 2017 zu schaffen. Unter www.mdr-competence.com findet man eine gemeinsame Auftrittsplattform von aktuell bereits acht Experten und Dienstleistern rund um das Thema Zulassung mit der bewussten Ausnahme der technischen Geräte-Entwicklung. Das Spektrum reicht vom Juristen und Betriebswirt über den Qualitäts- und Zulassungsexperten bis hin zu klinischen Forschungseinrichtungen für Medizinprodukte. Das Netzwerk dient ausschließlich der Vermittlung von Kontakten, ein Auftrag kommt immer nur mit dem einzelnen Experten zustande. MDR Competence wird weiterwachsen, derzeit wird u.a. die Aufnahme von Fraunhofer Instituten geprüft.

16.02.2018

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