Schlaganfall

53 wertvolle Minuten mehr für das Gehirn

Musterablauf für die Versorgung von Schlaganfallpatienten an der UMG verkürzt Behandlungszeit erheblich und reduziert dadurch Behinderungsgrad von Schlaganfallpatienten deutlich. Veröffentlichung in PLOS ONE.

Erst-Autorin der Publikation: Dr. Katharina Schlegel, Institut für...
Erst-Autorin der Publikation: Dr. Katharina Schlegel, Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie, UMG
Quelle: privat

 In der Behandlung eines Schlaganfalls zählt jede Minute! Je länger das Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird, desto mehr Gehirnzellen sterben ab. Dies führt zu bleibenden Einschränkungen. Schlaganfall gilt weltweit als die häufigste Ursache für bleibende Behinderungen.

53 Minuten wertvolle Zeit für das Gehirn bringt ein neues Versorgungskonzept, das ein interdisziplinäres Team von Schlaganfallforschern an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) entwickelt hat. Das Göttinger Konzept organisiert und beschleunigt die Arbeitsabläufe ab Eintreffen eines Patienten mit Schlaganfallbeschwerden in der Notaufnahme bis zur Behandlung. Ein Musterablauf für die Behandlung von akuten Schlaganfallpatienten koordiniert dann die Zuständigkeiten der beteiligten Ärztinnen und Ärzten, legt die wichtigsten Eckpfeiler der Behandlungsmaßnahmen fest und nennt Richtzeiten für die einzelnen Schritte zwischen Ankunft und Behandlung. Die Auswirkungen eines so strukturierten Vorgehens auf die Zeit zwischen Einlieferung und Behandlung sowie auf die Beschwerden des Patienten hat die AG „Klinische Schlaganfallforschung“ der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ausgewertet und die Ergebnisse kürzlich in der internationalen Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht.

Die AG „Klinische Schlaganfallforschung“ der UMG unter der Leitung von Priv.-Doz. Dr. Marios Psychogios, Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie (Direktor: Prof. Dr. Michael Knauth), und Priv.-Doz. Dr. Jan Liman, Klinik für Neurologie (Direktor: Prof. Dr. Mathias Bähr) beschäftigt sich seit vielen Jahren unter anderem mit Diagnose- und Therapieoptimierung des Schlaganfalls. Im Jahr 2014 wurde gemeinsam mit Prof. Dr. José Hinz, Klinik für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr. Michael Quintel) das neue Konzept entwickelt.

„Durch Standardisierung der Abläufe und strukturierte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen an der Schlaganfallbehandlung beteiligten Kliniken konnte an der UMG die Zeit bis zur Behandlung deutlich verkürzt werden“, sagt Dr. Katharina Schregel, Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie und Erstautorin der Publikation. „Dadurch konnte der Behinderungsgrad von Schlaganfallpatienten erheblich reduziert werden“, so Dr. Liman. „Jeder, in der Schlaganfalltherapie beteiligte Mitarbeiter der UMG, sei es technisches und Pflegepersonal, Assistenzärzte, Oberärzte oder Klinikleiter, hat eine wichtige Rolle in diesem Prozess“, sagt Dr. Psychogios. 

GÖTTINGER „SCHLAGANFALL-ABLAUFPLAN“

Das neu entwickelte Konzept standardisiert die Arbeitsabläufe bei Schlaganfällen. Ziel ist es, die Zeit zwischen Ankunft des Patienten in der UMG und der Wiedereröffnung des verschlossenen Blutgefäßes so gering wie möglich zu halten. Trifft ein Patient mit Schlaganfallsymptomen in der Notaufnahme der UMG ein, wird er unmittelbar von einem Neurologen untersucht. Dieser begleitet den Patienten zur weiteren Diagnostik im Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie. Dort werden Schnittbilder des Gehirns und der gehirnversorgenden Gefäße angefertigt, um eine Gehirnblutung als Ursache der Beschwerden auszuschließen und das verschlossene Gefäß zu identifizieren. Wird ein Gefäßverschluss gefunden, wird direkt nach der Bildgebung mit der medikamentösen Behandlung (Lysetherapie) zur Auflösung von Blutgerinnseln begonnen, sofern keine Gegenanzeigen aufgrund von beispielsweise an-deren Erkrankungen des Patienten bestehen. Danach erfolgt sofort der Transport in das Katheterlabor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie. Dort wird die mechanische kathetergestützte Gefäß-Wiedereröffnung durchgeführt. Alle Patienten werden anschließend zur engmaschigen Überwachung und Diagnostik von möglichen Ursachen des Schlaganfalls auf die neurologische Intensivstation bzw. zertifizierten Stroke Unit aufgenommen.

NEUES KONZEPT SCHAFFT ZEITGEWINN VON 53 MINUTEN

Innerhalb des Göttinger Schlaganfall-Ablaufplanes sind die Aufgaben der einzelnen Ärztinnen und Ärzte sehr genau definiert. Durch Schulungen des Personals und ständige Evaluation der Fälle wird gewährleistet, dass vorab definierte und mit internationalen Empfehlungen übereinstimmende Richtzeiten eingehalten und sogar übertroffen werden. So konnte mit dem neuen Konzept eine Zeitersparnis von 53 Minuten zwischen Ankunft der Patienten in der Notaufnahme und Behandlung erzielt werden. Dadurch wurde auch das Behandlungsergebnis deutlich verbessert: Die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die nach einer endovaskulären Behandlung wieder völlig beschwerdefrei sind, konnte von 1,5 Prozent vor Einführung des Ablaufplanes auf 9,1 Prozent angehoben werden. Gleichzeitig sank die Anzahl der dauerhaft sehr schwer betroffenen Patienten von 44,3 Prozent auf 36,4 Prozent.

NEUES ZIEL: WEITERE MINUTEN GEWINNEN

Aktuell arbeitet die AG „Klinische Schlaganfallforschung“ der UMG daran, die Zeit zwischen Einlieferung und Behandlung noch weiter zu verkürzen und die Arbeitsabläufe weiter zu optimieren. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Diagnosestellung direkt im Katheterlabor mit Hilfe von Schnittbildern über die Angiographie-Anlage erfolgen kann, die auch zur weiteren Behandlung genutzt wird. Dadurch können in Zukunft weitere Minuten gespart werden, die bislang für den Transport und die initiale Diagnosestellung in der konventionellen CT oder MRT benötigt werden. Weitere Forschungsschwerpunkte der AG sind Verfahren, die zur Prognose- und Risikoabschätzung sowie zur Ursachenfindung von Schlaganfällen angewendet werden können.

HINTERGRUND „SCHLAGANFALL“

„Schlaganfall“ ist eine plötzlich auftretende Erkrankung des Gehirns, die durch eine Minderversorgung von Gehirnzellen mit Blut verursacht wird. Ursache kann eine Einblutung ins Gehirngewebe sein. Häufiger liegt aber ein Verschluss eines hirnversorgenden Blutgefäßes vor. Meist sind Blutgerinnsel die Ursache eines solchen Gefäßverschlusses. Die Beschwerden des Patienten sind in beiden Fällen ähnlich und können Sprachstörungen, Gefühlsstörungen, Lähmungen oder Sehstörungen umfassen, je nachdem, welcher Teil des Gehirns betroffen ist. Die Beschwerden können vorübergehend sein, wenn die Durchblutung im betroffenen Hirnteil schnell genug wiederhergestellt wird. Sie können aber auch ein Leben lang andauern. Denn je länger das Gehirn nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt wird, desto mehr Gehirnzellen sterben ab. Eine schnelle Wiederherstellung der Durchblutung im Gehirn ist daher wichtigstes Behandlungsziel bei Schlaganfällen, die durch verschlossene Blutgefäße verursacht werden.

Es gibt zwei Möglichkeiten, ein verschlossenes Gefäß wieder zu eröffnen: Innerhalb von 4,5 Stunden nach Symptombeginn lassen sich Blutgerinnsel durch eine starke medikamentöse Blutverdünnung, der sogenannten Lysetherapie, auflösen. Allerdings gelingt dies bei langen, bzw. großen Gerinnseln häufig nicht oder nur unvollständig. In einer solchen Situation führt die katheter-basierte mechanische Wiedereröffnung, die sogenannte Thrombektomie oder auch endovaskuläre Schlaganfallbehandlung, zu einer entscheidenden Verbesserung der Wiedereröffnungsraten und einer Reduktion des Behinderungsgrades. Der Eingriff wird von interventionellen Neuroradiologen durchgeführt. Über einen Gefäßzugang in der Leiste werden unter Durchleuchtungskontrolle mit einer Angiographie-Anlage kleine Katheter und spezielle Stents über die Bauch- und Halsschlagadern bis zum verschlossenen Gefäß im Gehirn vorgeführt um es dann mit Hilfe modernster Technik wiederzueröffnen.

Originalpublikation: Effects of Workflow Optimization in Endovascularly Treated Stroke Patients – A Pre-Post Effectiveness Study. Katharina Schregel, Daniel Behme, Ioannis Tsogkas, Michael Knauth, Ilko Maier, André Karch, Rafael Mikolajczyk, José Hinz, Jan Liman, Marios-Nikos Psychogios; published: December 30, 2016. http://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0169192 

Quelle: Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität

16.03.2017

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