Neurophysiologie
Müde und erschöpft: Was steckt dahinter?
Tagesmüdigkeit ist ein belastendes Symptom, das sowohl bei psychischen Störungen wie Depression, Angst und Schlafstörungen als auch bei diversen nicht-psychiatrischen Erkrankungen häufig berichtet wird. Neurophysiologen des Universitätsklinikums Leipzig haben nun eine Methode entwickelt, die dazu beitragen soll, zu erkennen, ob die Erschöpfung bei einem Patienten mit einem zu niedrigem oder einem zu hohen zentralnervösen Erregungsniveau einhergeht.
Vom Vigilanz Algorithmus Leipzig (VIGALL 2.1) erhoffen sich Experten der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) damit gleichzeitig, den Zusammenhang zwischen gestörter Wachheitsregulation am Tag und psychischen Erkrankungen wie Depression, Manie und ADHS besser zu verstehen und die Behandlung von Betroffenen zu verbessern.
Depressive Patienten leiden häufig unter schwerer Erschöpfung, aber trotzdem gleichzeitig unter Schlaflosigkeit mit Einschlafproblemen, nächtlichen Wachphasen und frühmorgendlichem Aufwachen. „Untersuchungen mit dem VIGALL an Patienten mit typischer Depression weisen darauf hin, dass eine konstant hohe Aktivität des zentralen Nervensystems vorliegt, die auch in Ruhe und geschlossenen Augen kaum zurückgeht“, erklärt Professor Dr. Ulrich Hegerl, Präsident der DGKN. “Damit im Einklang ist, dass trotz großer Erschöpfung sich die Betroffenen häufig ruhelos und angespannt, wie vor einer Prüfung, fühlen“.
Vom aktiven Wachzustand, über entspannte Ruhe und Dösigkeit, bis zum Schlaf zeigt das zentrale Nervensystem unterschiedliche Aktivitätszustände. Wissenschaftler sprechen von unterschiedlichen „Arousalniveaus“. Die Regulation dieses Arousals ist überlebenswichtig. „Im Straßenverkehr oder bei Gefahr muss das Gehirn schneller reagieren und das Arousal hoch gehalten werden, anders in der Hängematte“, erklärt Hegerl. Durch bestimmtes Verhalten kann der Organismus das Arousal auch selbst regulieren. Ein gutes Beispiel dafür sind übermüdete Kinder. Hier ist der Organismus eigentlich schläfrig, das Arousal neigt also zum Abfallen. Dieser Einschlaftendenz wird aber durch Aufgedrehtheit, Hyperaktivität und Schaffung einer reizintensiven Umwelt entgegengesteuert.
Obwohl die Regulation des Arousals von fundamentaler Bedeutung für menschliches Verhalten ist, gab es bisher kein praktikables und ausreichend validiertes Verfahren, um die Arousalregulation im Wachzustand zu bestimmen. Mit dem VIGALL 2.1 legt nun die Leipziger Arbeitsgruppe eine überarbeitete Version des Vigilanz Algorithmus Leipzig vor, der Abschnitten aus einem Elektro-Enzephalogramm (EEG) jeweils eines von sieben Arousalstadien zuordnet. Im Rahmen eines 15-minütigen Ruhe-EEGs mit geschlossenen Augen in halb liegender Position können nun der Verlauf und die Regulation des Arousals bestimmt werden.
„VIGALL 2.1 könnte bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen und der Wahl der richtigen Therapie helfen“, so Hegerl. An Patienten mit unipolarer oder bipolarer (manischer) Depression und ADHS wurde das Verfahren bereits getestet. So ist das Arousal bei Menschen mit unipolarer Depression hochreguliert– das Nervensystem bleibt trotz der ruhigen Umgebung hochaktiv. Patienten mit Manie und ADHS haben dagegen Schwierigkeiten, ihr Arousal aufrechtzuerhalten (siehe schematische Darstellung in Abbildung). Die Software VIGALL 2.1 stellen die Leipziger Wissenschaftler kostenlos zur Verfügung.
Links:
VIGALL 2.1 zum Download, Handbuch und Studien: http://research.uni-leipzig.de/vigall/
Literatur:
Ulrich Hegerl, Tilman Hensch. The vigilance regulation model of affective disorders and ADHD. Neuroscience an Biobehavioral Reviews 44 (2014) 45-57
Quelle: Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung
30.09.2016