Zufallsfund mit Folgen – oder doch nicht?
Warum man bei inzidentellen Aneurysmen keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte
Die flächendeckende Verbreitung von MRT-Geräten in Deutschland und die exzellente Bildauflösung moderner Hochleistungsscanner führen zu einem immer früheren und sensitiveren kernspintomographischen Nachweis von Erkrankungen.
Und nicht allzu selten kriegt der Radiologe dabei Dinge zu Gesicht, nach denen er gar nicht gesucht hat. So auch im Fall der inzidentellen Aneurysmen an den Hirnbasisarterien. Dann heißt es, Ruhe zu bewahren und den Patienten nicht unnötig in Panik zu versetzen, sagt der interventionelle Neuroradiologe PD Dr. Gunther Fesl, Oberarzt in der Abteilung für Neuroradiologie am Klinikum der Universität München, denn nicht jede intrakranielle Arterienerweiterung ist eine tickende Zeitbombe, die sofort entschärft werden muss.
Bei den inzidentellen Aneurysmen handelt es sich um Gefäßaussackungen, die sich bis zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung unauffällig verhalten haben, also weder zu einer Blutung geführt haben noch anderweitig symptomatisch geworden sind. Das heißt, man findet diese Aneurysmen bei MRT-Untersuchungen des Kopfes, die aus einer anderen Indikation heraus veranlasst wurden. Das können beispielsweise Fragestellungen zu Kopfschmerz, Tumorerkrankungen oder inflammatorischen Prozessen sein. „Mit der aktuellen MR-Geräte-Generation haben wir auch eine sehr hohe Sensitivität erreicht, was die Aneurysmen angeht“, berichtet Dr. Fesl, „die Detektionsrate liegt mittlerweile bei sehr kleinen Gefäßaussackungen mit weniger als 3 Millimetern bei bis zu 98 Prozent. So kommt es, dass wir inzidentelle Aneurysmen heute tatsächlich sehr viel öfter aufspüren als noch in der Vergangenheit.“ Dabei ist es gar nicht so unwahrscheinlich, ein zerebrales Aneurysma als Nebendiagnose zu entdecken. Allein in Mitteleuropa liegt die Prävalenzrate in der erwachsenen Bevölkerung bei 2 bis 3 Prozent.
Therapie: ja, nein, vielleicht?
Auf die Nebendiagnose „inzidentelles Aneurysma“ folgt unweigerlich die Gretchenfrage: therapieren oder nicht? Das führt nicht selten zu einem Problem in der Informationsvermittlung zwischen Arzt und Patient, weiß Dr. Fesl: „Es kursiert immer noch das geflügelte Wort von einer tickenden Zeitbombe im Kopf. Solche Begrifflichkeiten sollte man gegenüber den Betroffenen tunlichst vermeiden, weil sie eine maximale Verunsicherung bei ihnen auslösen. Denn nicht alle inzidentellen Aneurysmen müssen behandelt werden. Entsprechend sorgfältig sind die Behandlungsindikationen zu prüfen.“
Ein Kosten-Nutzen-Risiko
Die Behandlungsbedürftigkeit hängt von vielen Faktoren ab. Zunächst von der Lokalisation und der Größe der Gefäßblase, so Fesl: „Wir wissen aus der groß angelegten ‚International Study of Unruptured Intracranial Aneurysms‘-(ISUIA-)Studie, dass das Rupturrisiko mit der Aneurysmagröße ansteigt. Während sehr kleine Aneurysmen in der vorderen Zirkulation ein kaum fassbares Rupturrisiko aufweisen, kann das jährliche Blutungsrisiko bei Aneurysmagrößen von über 2,4 Zentimetern auf bis zu 10 Prozent ansteigen.“ Zudem existieren patientenzentrierte Faktoren, die das Risiko einer spontanen Ruptur erhöhen. So sind Frauen um das etwa Anderthalbfache gefährdeter als Männer, Raucher gleich um das Dreifache. Hoher Alkoholmissbrauch, Hypertonie sowie eine familiäre Vorbelastung spielen ebenfalls eine Rolle. „Ein weiterer Punkt ist die Form“, ergänzt der Experte, „Aneurysmen, die sich durch eine homogene Kugelform auszeichnen, sind weniger rupturgefährdet als diejenigen, die Tochteraneurysmen aufzeigen.“
Coilen oder Clippen
Deshalb rät Gunther Fesl in jedem Fall dazu, sich mit Zufallsbefunden von inzidentellen Aneurysmen an ein spezialisiertes Zentrum zu wenden, das die Bilder auswerten, Therapieempfehlungen aussprechen und selbst eine Behandlung durchführen kann. Zur Verfügung stehen wenig invasive, katheterbasierte Behandlungsoptionen wie das Coiling oder operative Verfahren mithilfe von Clips.
Jede Woche treffen sich der Neuroradiologe Dr. Fesl und seine Fachkollegen aus Neurochirurgie, Neurologie und anderen Disziplinen deshalb zu einer neurovaskulären Konferenz, um jeden Fall interdisziplinär zu diskutieren. „Die Lokalisation beziehungsweise die Zugangswege zum Aneurysma sind häufig ausschlaggebend für unsere Entscheidung“, erklärt Fesl, „wenn ein Aneurysma zum Beispiel an der Spitze der Arteria basilaris liegt, können es unsere neurochirurgischen Kollegen aufgrund des schwierigen Zugangs nicht behandeln. Hier ist das Coiling die Methode der Wahl.“ Ist die Läsion auf neurointerventionellem oder neurochirurgischem Weg gleich gut zu erreichen, beeinflussen andere Fragestellungen die Wahl der Mittel. So sind zum Beispiel sehr breitbasige Aneurysmen oft besser für die Operation geeignet.
Durch diesen kollegialen Entscheidungsfindungsprozess kommt es am Arbeitsplatz von Dr. Fesl zu einer recht ausgewogenen Balance zwischen beiden Behandlungsoptionen – immer mit dem Ziel, das Behandlungsrisiko für den Patienten zu reduzieren.
Im Profil
Seit fast fünf Jahren ist PD Dr. Gunther Fesl als Oberarzt an der Abteilung für Neuroradiologie tätig. Dort leitet der 42-Jährige den Bereich Interventionelle Neuroradiologie und Angiographie. Nach dem Medizinstudium in München und London begann Fesl im Jahr 2000 seine berufliche Laufbahn am Klinikum der Universität München, wo er die Abteilung für Neuroradiologie, die Neurologische Klinik und das Institut für Klinische Radiologie durchlief. 2007 machte er seinen Facharzt für Diagnostische Radiologie. 2009 folgte die Schwerpunktbezeichnung Neuroradiologie.
18.01.2013