
Bildquelle: Universitätsklinikum Bonn (UKB) / Daria Siverina
Interview • Wichtiges Warnsignal
Schmerzen bei seltenen Erkrankungen: oft unterschätzt und vernachlässigt
Interview mit Dr. Mina Lyutenska und Prof. Dr. Lorenz Grigull im Vorfeld des 4. Sommersymposiums des Zentrums für Seltene Erkrankungen Bonn am Universitätsklinikum Bonn
Warum sollte man Schmerzen bei seltenen Erkrankungen ernst nehmen?
Prof. Dr. Lorenz Grigull: „Schmerz ist ein klassisches Warnsignal – unabhängig vom Alter. Für uns in der Diagnostik seltener Erkrankungen ist er wie eine Spur, ein Hinweis unter vielen, ähnlich wie ein auffälliger Laborwert oder ein Hautausschlag. Schmerzen können sehr spezifisch sein. Wenn man sie genau analysiert, helfen sie uns, eine seltene Erkrankung zu identifizieren und gezieltere Tests einzuleiten.“
Wenn Schmerzen nicht ernst genommen oder nicht systematisch erfasst werden, entsteht ein Teufelskreis: Je später die Behandlung beginnt, desto größer ist das Risiko, dass sich der Schmerz verselbstständigt
Mina Lyutenska
Dr. Mina Lyutenska: „Bestimmte Schmerzformen machen uns besonders aufmerksam: wiederkehrende, lokalisierte Schmerzen, die nicht gut auf übliche Schmerzmittel ansprechen, oder solche, die sich in ihrer Intensität steigern. Solche Muster deuten oft auf neuropathische oder systemische Ursachen hin. Ein klassisches Beispiel ist die akute Porphyrie – dort treten wiederholt spezifische Bauchschmerzen in Kombination mit anderen Symptomen wie Luftnot oder neurologische Ausfälle auf. Oder das familiäre Mittelmeerfieber, das sich durch schubförmig auftretende charakteristische Schmerzattacken und wiederkehrendes Fieber zeigt.“
Prof. Grigull: „Ich erinnere mich an einen Jungen, der über Jahre brennende Schmerzen in Händen und Füßen hatte – er saß mit den Füßen in einem Eimer mit Eiswasser. Die Diagnose lautete schließlich Morbus Fabry, eine seltene Stoffwechselerkrankung. Diese Fälle zeigen, wie wichtig es ist, Schmerz als ernstzunehmende diagnostische Fährte zu begreifen.“
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Warum bleibt Schmerz oft unbehandelt oder wird falsch eingeordnet?
Prof. Grigull: „Viele unterschätzen die Komplexität von Schmerz. Nur weil man selbst schon mal Kopfschmerzen hatte, ist man noch kein Schmerzexperte. Schmerzmedizin hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm weiterentwickelt. Trotzdem wird Schmerz gerade im hausärztlichen Bereich häufig noch nicht adäquat eingeschätzt. Eine systematische Schmerzdiagnostik erfolgt oft zu spät – und das kann dazu führen, dass Schmerzen chronisch werden.“
Ein Schmerztagebuch kann helfen, das Unsichtbare sichtbar zu machen
Lorenz Grigull
Dr. Lyutenska: „Schmerz ist subjektiv und wird häufig nicht offen kommuniziert – sei es aus Scham oder weil Patienten sich selbst behandeln. Viele greifen auf frei verkäufliche Medikamente zurück und suchen erst spät ärztliche Hilfe. Wenn Schmerzen nicht ernst genommen oder nicht systematisch erfasst werden, entsteht ein Teufelskreis: Je später die Behandlung beginnt, desto größer ist das Risiko, dass sich der Schmerz verselbstständigt.“
Prof. Grigull: „Ein Schmerztagebuch kann helfen, das Unsichtbare sichtbar zu machen – wann treten Schmerzen auf, unter welchen Umständen, was wurde gegessen, wie war das Wetter oder der emotionale Zustand? Solche Details liefern uns wichtige Hinweise. Und sie helfen den Betroffenen, ihre Symptome gegenüber dem medizinischen Fachpersonal präziser zu beschreiben.“
Was brauchen Betroffene – und wie hilft das ZSEB?
Prof. Grigull: „Wir am ZSEB setzen auf Vernetzung. Es reicht nicht, die Patienten einmal zur Diagnostik zu sehen – wir wollen eine kontinuierliche Begleitung ermöglichen. Dafür braucht es Zusammenarbeit: Haus- und Kinderärzte, Schmerztherapie, Psychosomatik und spezialisierte Zentren müssen eng kooperieren. Schmerz gehört in professionelle Hände – möglichst früh.“
Dr. Lyutenska: „Manche Schmerzformen lassen sich auch mit bester Therapie nicht vollständig lindern. Aber man kann lernen, mit ihnen zu leben. Dazu braucht es ein multiprofessionelles Team – aus Medizin, Psychologie, Sozialarbeit und Pflege. In den spezialisierten Schmerzzentren wie z. B. in unserer Schmerzambulanz, werden Patienten regelmäßig, zum Teil seit Jahren therapiert und begleitet. So entstehen stabile und tragfähige Beziehungen, die den Umgang mit chronischem Schmerz erleichtern.Auch Selbsthilfegruppen leisten hier wertvolle Arbeit. Zusätzlich bieten digitale Plattformen wie unsere App unrare.me eine Möglichkeit zur Vernetzung – Betroffene unterstützen sich gegenseitig, was oft enorm entlastend wirkt.“
Wie entwickelt sich die Forschung in der Schmerzmedizin?
Dr. Lyutenska: „Ein Beispiel für aktuelle Fortschritte ist die Antikörpertherapie bei Migräne. Solche innovativen Ansätze zeigen, wie sich neue Erkenntnisse direkt auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken können. Schmerzmedizin ist heute weit mehr als Medikation – es geht um ganzheitliche Versorgung, Individualisierung und ständige Weiterentwicklung.“
Prof. Grigull: „Unser Ziel ist es, Wissen zu teilen und Strukturen zu schaffen, die es Ärzten erleichtern, ihre Patienten an spezialisierte Stellen wie das ZSEB zu überweisen. Schmerz bei seltenen Erkrankungen ist eine interdisziplinäre Herausforderung – und genau das wollen wir auf unserem Sommersymposium am 2. Juli 2025 in Bonn diskutieren.“
Dr. Lyutenska: „Wir laden herzlich alle Interessierten ein – Haus- und Fachärzte, Pflegekräfte, Therapeuten sowie Vertreter von Selbsthilfegruppen. Nur gemeinsam können wir die Versorgung betroffener Menschen verbessern.“
Quelle: Universitätsklinikum Bonn
01.07.2025