Schmerz hält sich nicht an Fachgebiete
Schmerzmedizin erfordert funktionell-orthopädische, neurologische, psychosoziale, psychiatrische und anästhesiologische Kompetenzen. Die wenigen bestehenden multimodalen, multiprofessionellen Netzwerke können eine flächendeckende schmerzmedizinische Versorgung in Deutschland nicht gewährleisten. Schmerzexperten fordern deswegen einen Facharzt für Schmerzmedizin.
Die schmerzmedizinische Versorgung in Deutschland übernehmen derzeit Hausärzte, Fachärzte, Klinikambulanzen und teil- bzw. vollstationäre schmerzmedizinische Einrichtungen an Krankenhäusern. Ärzte ohne spezielle Schmerzqualifikation werden dabei unterstützt durch rund 1.000 niedergelassene Haus- und Fachärzte mit der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“, die an der Qualitätssicherungs-(QS-)-vereinbarung Schmerztherapie nach § 135 SGB V aus dem Jahr 2005 teilnehmen, von denen etwa 400 eine ausschließliche Schmerzversorgung anbieten. Schmerztherapeutisch qualifizierte Fachärzte bewegen sich allerdings immer innerhalb der Grenzen ihrer Fachgebiete. So kann ein Neurologe keine anästhesiologische Schmerzmedizin leisten und abrechnen, und ein Anästhesist keine funktionelle Diagnostik. Für PD Dr. Michael Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga e.V. (DSL), ein hausgemachtes Problem: „Unsere Versorgung ist zu standardisiert. Jeder Arzt macht innerhalb seines Fachgebiets das Bestmögliche, aber eben nach ,Katalog’. Hat der Patient weiterhin Beschwerden, reicht er ihn weiter. Bleiben die Beschwerden immer noch, wird der Patient psychologisiert. Jeder Patient ist individuell und braucht daher eine individuelle Versorgung.“
„Seit Jahren weigert sich die Gemeinsame Selbstverwaltung das Problem der schmerzmedizinischen Unter- und Fehlversorgung anzupacken und schiebt sich den Schwarzen Peter gegenseitig zu: Von den Krankenkassen zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung, von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Bundesärztekammer und wieder zurück. Trotz mehrmaliger und wiederholter Willensbekundungen der Institutionen in den letzten Jahren hat sich an der massiven schmerzmedizinischen Versorgungsproblematik nichts verändert“, betont Prof. Dr. Dr. Joachim Nadstawek, Vorsitzender des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland e.V. (BVSD). Dass die Regelversorgung hier versagt, meint auch Harry Kletzko, ehemals Vizepräsident der DSL, denn die Zahl der Schmerzpatienten steige stetig, statt zurückzugehen. Kurz- und mittelfristig seien Integrierte Versorgungsverträge sinnvoll. Langfristig könne die Lösung aber nur in einer besseren Ausbildung vor allem der Allgemeinärzte liegen, damit sie einen „Schmerzblick“ entwickeln. Dann würden auch Komplikationen wie etwa eine beginnende Chronifizierung rechtzeitig erkannt.
Wer steuert die Versorgung? Wie ist schmerzmedizinische Qualifikation für Patienten erkennbar?
Chronischen Schmerzpatienten fehle eine zentrale Anlaufstelle, betont der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), Dr. Gerhard Müller-Schwefe: „Die chronische Schmerzerkrankung ist keine Einorganerkrankung, sondern sie betrifft verschiedene Dimensionen des Menschen. Schmerz hat körperliche, psychische und soziale Aspekte, und um diesen gerecht zu werden, braucht es funktionell-orthopädische, physiotherapeutische, neurologische, psychiatrische und anästhesiologische Kompetenzen.“
Die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen haben das im Prinzip erkannt und fordern im Einklang mit akademischen, überwiegend in Krankenhäusern ansässigen Schmerzmedizinern für chronische Schmerzpatienten eine multiprofessionelle, multimodale Therapie, so Müller-Schwefe. „Theoretisch ist das auch ein gutes Konzept, aber es scheitert an der praktischen Umsetzung. Für eine flächendeckende Versorgung von knapp drei Millionen Patienten ist dieses Konzept auf Grund des hohen Personal- und Zeitaufwandes einfach nicht geeignet“, so Müller-Schwefe. Stand 2015 existiert eine strukturierte Versorgung von Schmerzpatienten allenfalls punktuell. Die große Mehrheit der Patienten wechselt, teils mit Überweisung, teils in Eigeninitiative, von Arzt zu Arzt.
Facharzt für Schmerzmedizin wird der Erkrankung und den Patienten gerecht
„Die Schmerzversorgung in Deutschland ist aus Patientensicht unzureichend. Wir brauchen mehr Ärzte, die alle Bereiche, die einen Schmerzpatienten durch seine Erkrankung berühren, abdecken“, betont Birgitta Gibson von der DSL. Das Fehlen von spezialisierten Schmerzmedizinern sei eine Ursache dafür, dass viele Menschen mit chronischen Schmerzen unzureichend oder gar nicht behandelt werden, sagt auch Arno Zurstraßen, Fachanwalt für Medizinrecht. „Die schmerzmedizinische Qualifikation ist für Patienten nur schwer erkennbar und es ist vom Zufall abhängig, an welchen Behandler der Patient gerät“, so Zurstraßen. Genauso sieht es Dr. Oliver Emrich, Vizepräsident der DGS. „Ressourcen gibt es viele, aber sie werden nicht gut gesteuert.“
Ein Facharzt für Schmerzmedizin als höchste Versorgungsebene in einer abgestuften Versorgung könnte sowohl den Wunsch nach einem konstanten Ansprechpartner für den Patienten als auch die Anforderungen an eine breite Qualifikation im Sinne eines Querschnittsfachs erfüllen: Funktionell-orthopädische und pharmakologische Kenntnisse würden ergänzt durch neurologische und psychotherapeutische Kenntnisse sowie durch die Kompetenz, invasiv-schmerztherapeutische Verfahren anzuwenden. Die DSL, die DGS und der BVSD plä-dieren deshalb für die Einführung dieses Fachgebiets im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung.
Andere Wege aus dem Dilemma
Kassenärztliche Vereinigungen und Ärztekammern stehen einem Facharzt für Schmerzmedizin als Voraussetzung für schmerzmedizinische Bedarfsplanung bisher eher skeptisch gegenüber und so scheint eine flächendeckende wohnortnahe schmerzmedizinische Versorgung in weiter Ferne.
Dr. Eva Bartmann, BVSD-Vorstandsmitglied, plädiert dafür, im Rahmen der QS-Vereinbarung Teilzeit- und Familienoptionen auszuschöpfen, um jungen Ärztinnen und Ärzten mit schmerzmedizinischen Ambitionen entgegen zu kommen. Auch die Finanzierung der Weiterbildung ist optimierungsfähig, wie Müller-Schwefe betont: „Derzeit bezahlen Schmerzmediziner die schmerzmedizinische Weiterbildung ihrer Kollegen aus der eigenen Tasche. Eine ähnliche Förderung wie in der Allgemeinmedizin wäre dringend nötig.“
Versorgungspolitisch bringt Dr. Axel Munte, Vorsitzender des Bundesverbands der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV), den neuen Versorgungssektor der ASV als eine Möglichkeit ins Spiel, die Schmerzversorgung in Deutschland voranzubringen. Im Rahmen der im Jahr 2014 eingeführten ASV können schwer kranke Patienten interdisziplinär und sektorübergreifend versorgt werden. Abrechnung und Vergütung erfolgen dabei außerhalb der üblichen vertragsärztlichen Versorgung ohne den Hemmschuh der Budgetierung. Bisher sei die Schmerzmedizin nur rudimentär in der ASV verankert, in Form von hinzuzuziehenden Fachärzten, und nur bestimmten wenigen Fachgebieten vorbehalten. Das könne sich aber ändern, so Munte, wenn sich die Schmerzmediziner, gut abgestimmt, für die ASV stark machten. Auch ein Ausbau der Selektivverträge zwischen Ärzten und Krankenkassen wäre mehr als nichts. „Die entscheidende Frage ist aber immer, ob wir eine Flächendeckung erreichen“, so Müller-Schwefe. „Hierfür ist der Facharzt für Schmerzmedizin aus unserer Sicht der beste Weg.“
Schmerzmedizin als Fachrichtung aufwerten
Ob es eine eigene Facharztrichtung Schmerzmedizin geben soll, sei zunächst Sache der ärztlichen Selbstverwaltung. „Allerdings plädieren wir als Politiker dafür, die spezialisierte Schmerzmedizin als Planungskriterium in die kassenärztliche Bedarfsplanung aufzunehmen”, erklärt Harald Weinberg, MdB, DIE LINKE. „Wir werden beobachten, ob die Festlegungen des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Bedarfsplanungsrichtlinie und weitere regionale Festlegungen eine gute spezialisierte Schmerzbehandlung für die Versicherten gewährleisten”, so Weinberg. Das grundsätzliche Problem, dass Subspezialisierungen insbesondere innerhalb der Inneren Medizin bei der Bedarfsplanung nicht ausreichend berücksichtigt werden, sei leider mit den letzten Gesetzen (Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) und Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) nicht hinreichend gelöst worden. „Zwar gibt es die Möglichkeit, auf regionaler Ebene Sonderbedarf zu berücksichtigen, es wäre aber besser, für eine flächendeckend gute Versorgung bundeseinheitliche Kriterien zu schaffen.”
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
13.01.2016