Avatar als Pflegehelfer

Projekt zur Schmerz- und Emotionserkennung bei Senioren gestartet

Im Projekt SenseEmotion arbeiten Forscher aus Ulm und Augsburg an einer sensorbasierten Schmerz- und Emotionserkennung für pflegebedürftige Menschen. So soll eine Unterversorgung älterer und womöglich dementer Schmerzpatienten verhindert werden. Darüber hinaus soll ein in den Raum projizierbarer Avatar die Seniorinnen und Senioren "beraten" und ein Schmerztagebuch für das Pflegepersonal führen. Aktuell laufen im Verbundprojekt Experimente, in denen teilweise ein "Alterssimulationsanzug" zum Einsatz kommt. Dieser Anzug soll mit Gewichten, versteiften Gelenken und einer Spezialbrille dabei helfen, die Lebenswirklichkeit von Senioren nachzuvollziehen.

Dr. Steffen Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt SenseEmotion,...
Dr. Steffen Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt SenseEmotion, bereitet einen Probanden im Alterssimulationsanzug auf das Experiment vor.
Quelle: Eberhardt/Uni Ulm

Ältere und womöglich demente Personen können ihren Pflegern oft nicht mitteilen, ob sie unter Schmerzen leiden und wie stark diese sind. Gerade in Zeiten des Pflegenotstands kann dies zu einer Unterversorgung der Patienten führen. Informatiker und Psychologen der Universitäten Ulm und Augsburg arbeiten im Projekt „SenseEmotion“ an der Lösung: Eine sensorbasierte automatische Schmerz- und Emotionserkennung sowie ein Avatar sollen eine optimale Therapie ermöglichen und das Personal in Seniorenheimen und Krankenhäusern entlasten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt für drei Jahre mit über 1,3 Millionen Euro.

Die Deutschen werden immer älter. Doch oft mindern körperliche Beeinträchtigungen und Schmerzen die Lebensqualität der Seniorinnen und Senioren. Das Problem: Gerade bei kognitiv und verbal eingeschränkten Personen können Pflegende die emotionale Verfassung, Verwirrungszustände sowie die Schmerzintensität nur schwer einschätzen. Mithilfe von physiologischen Messungen – zum Beispiel des Hautleitwiderstands – sowie Sprach- und Bewegungsanalysen wollen Forscher der Universitäten Ulm und Augsburg das Personal in Seniorenheimen und Krankenhäusern unterstützen und eine optimale Pflege ermöglichen. Diese multimodalen Daten, erhoben mittels Sensoren, Audio- und Videoaufnahmen sowie so genannten Motion Capture Systemen, werden in einem zweiten Schritt zusammengeführt und für die Betreuer ausgewertet. So ergeben sich Hinweise auf den Zustand der Senioren.

„Ist gerade kein Pfleger zur Stelle, kann ein Avatar die Heimbewohner beruhigen und ablenken. Dieser virtuelle Pflegehelfer berät die Frauen und Männer, schlägt beispielsweise einen Spaziergang vor oder lenkt sie mit ihrer Lieblingsmusik ab“, erklärt Dr. Steffen Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ulmer Sektion Medizinische Psychologie. Zudem könne der in den Raum projizierbare Avatar eine Art Schmerztagebuch für das Pflegepersonal führen.

Die Forschergruppe hat mit dem Projekt SenseEmotion auf eine Ausschreibung des BMBF zur Unterstützung Älterer und ihres Pflegepersonals reagiert. Denn die Voraussetzungen an beiden Standorten sind hervorragend: Vorarbeiten zur Emotionsforschung, zur Bewegungs- und Verhaltensanalyse sowie zum Interaktionsdesign haben Ulmer Wissenschaftler um Professor Enrico Rukzio, Professor Heiko Neumann und Dr. Friedhelm Schwenker unter anderem im Sonderforschungsbereich/TRR 62 zur Mensch-Maschine-Interaktion geleistet. Professor Harald Traue, Leiter der Ulmer Sektion Medizinische Psychologie und ebenfalls SFB-Mitglied, ist darüber hinaus ein anerkannter Schmerzexperte. Weiterhin steuern der Koordinator des Verbundprojekts, PD Dr. Jonghwa Kim (Augsburg), und Professorin Elisabeth André, Inhaberin des Lehrstuhls für Multimodale Mensch-Technik-Interaktion an der Universität Augsburg, ihre Expertise zur physiologischen Analyse und multisensorischen Datenfusion bei.

„Auf diesen Vorarbeiten werden wir aufbauen können. Mit der Erkennung von schmerzassoziierten Emotionen betreten wir jedoch absolutes Neuland. Es sind keine computergestützten Studien zu einer präzisen Differenzierung zwischen Schmerz und Emotion bekannt“, erklärt Professorin Elisabeth André. Dr. Steffen Walter aus Ulm ergänzt: „Bisher haben wir eine ähnliche Technik nur in statischen Situationen verwendet, in denen Patienten still saßen. Jetzt müssen wir uns auf mobile Nutzer einstellen, was beispielsweise Probleme bei der Gesichtserfassung mit sich bringt. Weitere technische Herausforderungen sind die robuste Zustandserkennung und die Datenfusion.“ Zudem gilt es natürlich auch, Vertrauen und Akzeptanz in die digitale Diagnostik bei den Senioren und ihren Pflegern zu schaffen. Ein wichtiger Punkt dabei: Die Sensoren zur Emotions- und Schmerzerfassung müssen komfortabel und unauffällig zu tragen sein.

Auf dem Weg zur praktischen Umsetzung sind gerade zwei große Experimente in Planung: Zum einen wird die Zustandserfassung mittels Biopotentialen wie Elektrokardiogrammen (EKG), Audio- und Videoaufnahmen an jungen, gesunden Probanden im Labor getestet.
In einem zweiten Versuch soll die Lebenswirklichkeit von Heimbewohnern imitiert werden: Neben den Sensoren tragen Versuchspersonen „Alterssimulationsanzüge“ und können so den Pflegealltag nachempfinden. Gewichte im Anzug, versteifte Gelenke und eine Spezialbrille, die eine eingeschränkte Sicht simuliert, erschweren das frühe Wecken, die Medikamenteneinnahme oder etwa die Vorbereitung des Verwandtenbesuchs. Durch dieses Experiment wollen die Forscherinnen und Forscher erfahren,
wie kritische Situationen im Alltag der Senioren erkannt werden können.

In etwa zweieinhalb Jahren planen die Forscher eine längerfristige Pilotstudie in einem Seniorenheim. Dann wird sich zeigen, wie die Heimbewohner auf Schmerz- und Emotionserkennung und vor allem auf den Avatar als Pflegehelfer reagieren. „Das Ziel des Projekts besteht darin, die Behandlung im Pflegeheim bei körperlichen und seelischen Schmerzen durch exakte automatische Schmerzerkennung und ein personalisiertes Affektmanagement zu optimieren, um das Wohlbefinden und die Lebensqualität von älteren Menschen zu verbessern“, resümiert der Koordinator PD Dr. Jonghwa Kim.

Quelle: Universität Ulm

04.09.2015

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