Artikel • Patientenspezifische Dosisreduktion
Keine Strahlung nach Schema F
Die Strahlenexposition in der diagnostischen und interventionellen Radiologie wird durch neue Technik und ausgeklügelte Scanverfahren stetig verringert – doch einige wichtige Stellschrauben werden dabei bislang kaum berücksichtigt, sagt Dr. Kerstin Jungnickel.
Artikel: Wolfgang Behrends
Bildquelle: Adobe Stock/comicsans
Insbesondere die Anpassung der Untersuchungstechniken nach Alter und Geschlecht bietet großes Potenzial zur Dosisreduktion, zeigt sich die Medizinphysik-Expertin überzeugt. Auf dem Deutschen Röntgenkongress erläuterte sie, wie sich durch patientenspezifische Protokolle der Strahlenschutz verbessern lässt und welchen Einfluss neue Erkenntnisse zur Strahlenempfindlichkeit bestimmter Körperregionen haben.
Insbesondere bei der weiblichen Brust ist die Strahlenempfindlichkeit deutlich höher als früher gedacht
Kerstin Jungnickel
Das Prinzip der patientenspezifischen Dosisreduktion ist alles andere als Neuland: Schon lange werden bei der Untersuchung Schwangerer und pädiatrischer Patienten möglichst geringe Dosen gewählt, um Schäden durch ionisierende Strahlung zu vermeiden. „Bei Kindern unter 10 Jahren ist beispielsweise bekannt, dass sie etwa um den Faktor drei strahlenempfindlicher sind als Erwachsene“, berichtet Dr. Jungnickel. Jüngere Forschung hat darüber hinaus gezeigt,1 dass auch das Geschlecht eine Rolle spielt: „Frauen sind tatsächlich strahlenempfindlicher als Männer. Entscheidend ist hier die unterschiedliche Sensibilität des Gewebes. Insbesondere bei der weiblichen Brust ist die Strahlenempfindlichkeit deutlich höher als früher gedacht.“ Auf der anderen Seite hat sich die Empfindlichkeit der Eierstöcke und Hoden als weniger empfindlich herausgestellt als zuvor angenommen. „Früher war Strahlenschutz in erster Linie Gonadenschutz, aber mittlerweile wissen wir, dass man hier differenzierter vorgehen muss.“
Die neuen Erkenntnisse fußen insbesondere auf der japanischen Life Span Study2; diese Langzeitstudie untersucht Strahlenschäden an Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945. Die Studie mit etwa 120.000 gesunden und Strahlungs-exponierten Teilnehmern liefert fortlaufend neue Einblicke in die langfristigen Auswirkungen ionisierender Strahlung in verschiedenen Gewebearten. Die Ergebnisse fließen u.a. in die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission ein.3
Bildquelle: Narendran et al., Frontiers in Genetics 2019 (CC BY 4.0)
Balanceakt zwischen Strahlenschutz und Bildqualität
Das Wissen um die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit von Geweben ist bislang nur in Ansätzen in der praktischen Anwendung angekommen. Zwar müssen die Hersteller bildgebender Systeme angepasste Protokolle für die Untersuchung von Kindern anbieten, und neuere Scanner verfügen bereits über vordefinierte Settings, etwa CTs mit organbasierter Röhrenabschaltung. Dr. Jungnickel sieht jedoch weitere Möglichkeiten zur Verbesserung: „Wünschenswert wäre etwa ein ‚schlaues‘ System, das z.B. bei Angiografie-Untersuchungen im Bereich der weiblichen Brust automatisch die Dosis reduziert oder bei Schwangeren explizit den Uterus schützt. Auf dieses Ziel müssen jedoch beide Seiten hinarbeiten: Zum einen die Hersteller, die solche unterstützenden Systeme anbieten, zum anderen das medizinische Fachpersonal, das die organ- und gewebespezifischen Untersuchungstechniken kennt und anwendet.“
Allerdings hängt die Personalisierung der Strahlendosis von vielen Faktoren ab, was die Berechnung entsprechend komplex macht: „Die nötige Dosis hängt auch davon ab, ob ein Patient übergewichtig ist, und welche Körperpartie untersucht wird. Nicht zuletzt muss die Dosis noch hoch genug sein, um eine ausreichende Bildqualität zu erhalten, sonst ist niemandem geholfen. Das ist ein intrinsisches Problem in der Radiologie, aber ich denke, in den kommenden zehn Jahren werden zumindest Ansätze auf den Markt kommen, die eine patientenspezifische Dosisreduktion bieten.“
Neue Technik: Hilfreich, aber keine Patentlösung
Radiologen und Medizinphysiker sollten gemeinsam mit den Herstellern Wege finden, die Strahlenexposition zu senken, wo immer es möglich ist
Kerstin Jungnickel
Neben neuen Erkenntnissen zur Strahlenempfindlichkeit sind es vor allem technische Innovationen, die eine Verringerung der benötigten Dosis vorantreiben. Dr. Jungnickel verweist in diesem Zusammenhang auf die Photon-Counting-Technologie, die aktuell als nächster großer Schritt in der CT-Bildgebung gehandelt wird: „Dadurch wird es nochmal eine Reduzierung der Dosis geben, wie sie vor einigen Jahren mit der iterativen Rekonstruktion erreicht wurde.“ Die Expertin gibt allerdings zu bedenken, dass sich auch durch solche Neuerungen die Strahlendosis nicht beliebig absenken lässt. „Es wird zwar weiterhin Fortschritte geben, aber wir werden immer eine gewisse Dosis brauchen, um ein verwertbares Bild zu erhalten.“
Zum anderen gibt es Anwendungsbereiche wie die Notfallmedizin, in denen der Strahlenschutz nicht die höchste Priorität genießt: „Im Traumasetting geht es im Zweifelsfall darum, das Leben des Patienten zu retten, deshalb hat die Geschwindigkeit der Bildgebung klar Vorrang.“
Nichtsdestotrotz lautet der abschließende Appell von Dr. Jungnickel an alle Beteiligten, sich kontinuierlich für eine Dosisoptimierung einzusetzen: „Radiologen und Medizinphysiker sollten gemeinsam mit den Herstellern Wege finden, die Strahlenexposition zu senken, wo immer es möglich ist. Die Einbeziehung alters- und geschlechtsspezifischer Kriterien ist dabei ein wichtiger Baustein.“
Profil:
Dr. rer. nat. Kerstin Jungnickel ist Medizinphysik-Expertin am Institut für diagnostische und interventionelle Radiologie im Klinikum Magdeburg und stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Physik und Technik (APT) in der bildgebenden Diagnostik der Deutschen Röntgengesellschaft (DRG).
Quellen:
26.07.2022