Artikel • Datenbank 'Bigpicture'
Mit Millionen Schnittbildern zur digitalen Pathologie
Ein europäisches Konsortium entwickelt ein Datenarchiv zur gemeinsamen Nutzung von histopathologischen Gewebeschnitten, das unter Verwendung Künstlicher Intelligenz für zahlreiche Anwendungen in Klinik und Forschung dienen wird.
Bericht: Michael Krassnitzer
Bildquelle: Bigpicture / Gerd Altmann auf Pixabay (Mashup: HiE)
Die Digitalisierung von Gewebeschnitten hat in den vergangenen Jahren eine Revolution in der Pathologie ausgelöst: Bilder können nun nicht nur geteilt und von entfernten Orten aus abgerufen werden, sondern lassen sich auch von Computern verarbeiten. Dies eröffnet die Möglichkeit für Anwendungen künstlicher Intelligenz (KI). Die Entwicklung von robusten KI-Anwendungen erfordert jedoch extreme Datenmengen. „Wenn wir die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und Algorithmen in der Pathologie vorantreiben wollen, brauchen wir ausreichend große Datenbanken mit digitalisierten Gewebeschnitten“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Renate Kain, PhD, Leiterin des Klinischen Instituts für Pathologie der medizinischen Universität Wien bzw. des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
Eine solches Datenarchiv zur gemeinsamen Nutzung von Pathologiedaten befindet sich derzeit auf europäischer Ebene in Aufbau. Das mit 70 Millionen Euro veranschlagte, auf sechs Jahre angelegte Projekt mit dem Namen Bigpicture soll eine neue Ära in der Pathologie einläuten. Das von der Initiative Innovative Arzneimittel (IMI) finanzierte und von einem europäischen Konsortium aus führenden Forschungszentren, Krankenhäusern und großen Pharmaunternehmen – 45 Partner aus 15 Ländern – getragene Projekt gliedert sich in vier Hauptaspekte: Erstens muss eine Infrastruktur – Hardware und Software – geschaffen werden, um Millionen von Bildern, die insgesamt 4,5 Petabyte (4,5 Millionen Gigabyte) umfassen, zu speichern, zu teilen und zu verarbeiten. Zweitens müssen im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) rechtliche und ethische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um eine angemessene Nutzung der Daten zu gewährleisten und gleichzeitig die Privatsphäre der Patienten sowie die Vertraulichkeit der Daten sicherzustellen. Ist dies getan, wird drittens ein erster Satz von insgesamt drei Millionen digitalen Objektträgern aus dem klinischen Alltag und aus präklinischen Studien gesammelt. Viertens schließlich werden KI-Tools entwickelt, welche die Nutzung der Datenbank sowie die Verarbeitung von Bildern für Diagnose- und Forschungszwecke unterstützen.
Bei Langzeitstudien kann es sein, dass alte Fälle gemäß den aktuellen Kriterien nachklassifiziert werden müssen. Auch hier kann ein unterstützender Algorithmus die Arbeit der Pathologen deutlich erleichtern
Renate Kain
Die KI-Funktionalitäten bieten eine Reihe interessanter Anwendungsmöglichkeiten. Naheliegend sind etwa die automatisierte Erkennung von Krebs oder Krebsvorstufen sowie von nicht-tumorösen Veränderungen. Die Algorithmen können auch darauf trainiert werden, dieselbe Struktur auf den verschiedenen Schnittebenen wiederzuerkennen – eine bislang für Pathologen aufwändige und nicht ganz einfache Aufgabe. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ist die Quantifizierung von Biomarkern, etwa die automatisierte Auswertung von Zell-Wachstumsmarkern wie dem Ki-67-Antigen. Auch für die Nachklassifikation von Tumoren, aber auch von nicht-neoplastischen Erkrankungen, bietet sich KI an: „Aufgrund neuer immunhistochemischer Marker können sich immer wieder Beurteilung oder Klassifikationen bestimmter pathologischer Veränderungen ändern. Bei Langzeitstudien kann es sein, dass dann alte Fälle gemäß den aktuellen Kriterien nachklassifiziert werden müssen“, erläutert Kain. „Auch hier kann ein unterstützender Algorithmus die Arbeit der Pathologen deutlich erleichtern.“ Ein großes Thema ist auch die Standardisierung der Farbgebung (z. B. mittels Hämatoxylin-Eosin) bei den Schnittbildern.
Bildquelle: Bigpicture
Nach Ende der Laufzeit soll das Projekt nicht einfach auslaufen. „Nachhaltigkeit ist uns ganz wichtig“, bekräftigt Kain: „Bigpicture soll auch nach diesen sechs Jahren weiter bestehen.“ Das Konsortium arbeitet Nachhaltigkeitspläne aus, um die Plattform über die Projektlaufzeit hinaus zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Kain bzw. das Klinische Institut für Pathologie in Wien leitet für die klinischen Partner den Arbeitsbereich ('work package') Datensammlung und -management und ist damit für die Einrichtung organisatorischer Knotenpunkte zum Erhalt qualitativ hochwertiger Proben und Whole-Slide-Imaging-Digitalbilder (WSI) zuständig. Die Wiener Pathologin fungiert auch als Koordinatorin des Organisationsknotens 'Nieren' und ist für die Erfassung von Daten und Proben hinsichtlich angeborener Nierenerkrankungen, Nierentransplantationen, Herzerkrankungen, Herztransplantationen und seltener nicht-neoplastischen Erkrankungen aller Organe verantwortlich.
Anmerkung: Dieses Projekt hat Fördermittel vom Gemeinsamen Unternehmen IMI2 (Initiative Innovative Arzneimittel) unter der Finanzhilfevereinbarung Nr. 945358 erhalten. Dieses gemeinsame Unternehmen wird durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union und EFPIA unterstützt.
Profil:
Univ. Prof. Dr. Renate Kain, PhD, ist Leiterin des Klinischen Instituts für Pathologie am Allgemeinen Krankenhaus Wien und Mitglied des Leitungsgremiums des Comprehensive Cancer Center an der Medizinischen Universität Wien. Die Pathologin, die in Wien Medizin studierte, arbeitete und forschte unter anderem am Sandford-Burnham Institute in Kalifornien und an der Universität von Aberdeen (GB). Ihre Spezialgebiete umfassen Nierenpathologie, Infektionspathologie, Immunologie, Genetik und molekulare Diagnostik.
08.02.2022