Artikel • Gesundheitswirtschaftskongress
Krise als Treiber, Finanzierung als Nachhaltigkeitsbringer
Die Branche sucht den Austausch: Das zeigte in Hamburg der hybride Gesundheitswirtschaftskongress (GWK). Die Digitalisierung als Beschleuniger für Veränderungen spielte bei den Diskussionen eine herausragende Rolle.
Bericht: Michael Reiter
Unsere Ansprüche an die Versorgungsangebote haben sich dramatisch verändert, lautete die Kernbotschaft von Kongresspräsident Prof. Heinz Lohmann: Mit der alten Struktur können wir aufgrund der demographischen Entwicklung und des Wandels in ländlichen Regionen nicht weitermachen, denn das Fachpersonal wird immer knapper. Folglich entwickelt sich eine lokale Konzentration fachmedizinischer Leistungen, und in der Grundversorgung steigt der Druck hin zur Vernetzung ebenso wie zwischen Gesundheits- und Sozialangeboten. Um diese Herausforderungen zu meistern, ist – neben der fairen Finanzierung – die Digitalisierung ein zentrales Stichwort, fasst Lohmann den Tenor des GWK zusammen. Dessen Auftrag sieht er in der Erarbeitung von Handlungsskizzen für die nächsten Jahre.
Die Krise als Treiber für den digitalen Wandel adressierte konkret eine Session: Ihr Panel bot ein buntes Spektrum an Einsichten zum Thema: so realisiert NEXT data Service datengetriebene Dienste; Wolters Kluwer Health bietet entscheidungsunterstützende Systeme an; der Health Innovation Hub treibt die Digitalisierung im Auftrag des BMG voran; dpv analytics macht KI für die Kardiologie; die Universitätsmedizin Lübeck engagiert sich in der Leistungserbringung; das Schweizer Unternehmen Medisanté bietet Internet-of-Things an. Die Moderation der Session stellte die DAK.
Turbo für digitale Prozesse
Die Krise zeigt die Chancen der Digitalisierung – so das Statement von Matthias Kohl, DAK Gesundheit. Fernbehandlung, Krankschreiben per Telefon, Videokonferenzen für Arzt-Patienten-Gespräche. Im Vergleich mit der Wirtschaft dominierte in der Gesundheitswirtschaft vor der Pandemie eindeutig das Analoge, erläuterte Sebastian Busse, NEXT data service. Papierbasierte Prozesse, monolithische On-Premise-Systeme (die ortsunabhängiges Arbeiten etwa vom Home Office erschweren) und zettelbasierte Planung beherrschten die Tagesordnung. Im Ausgang der Krise profitiert die Gesellschaft nun von Online-Terminvergabe und Telekonsultation, ePA und digitalem Workflowmanagement. Infrastrukturen mit Best-of-breed-Lösungen in der Cloud bieten sich für den Fortschritt ebenso an wie durchgehend digitale, transparente Prozesse, sagte Busse.
Vorzüge der Entscheidungsunterstützung in der Krise
Sechs Komponenten sind erfolgskritisch für die Unterstützung klinischer Entscheidungen nicht nur in unsicheren Zeiten, unterstrich Simone Mahn von Wolters Kluwer Health: zusammengefasste Evidenzdaten, anerkannte Expertise, Peer Review, Transparenz, Gründlichkeit und Schnelligkeit, jederzeit griffbereite Informationen. So lässt sich UpToDate beispielsweise in die Workflows der Ärzte integrieren, was die Akzeptanz fördert.
Auch die Patientenaufklärung gewinnt im Kontext zunehmender Emanzipation und Einbindung von Patienten an Bedeutung. Auf Informationen für Patienten sollten beispielsweise während virtueller Arztbesuche zugegriffen werden können. – Die Nutzung des Wissenssystems beeindruckt: Täglich verzeichnet Wolters Kluwer ca. 1,9 Millionen Themenaufrufe, 27 Prozent davon führen zu veränderten Entscheidungen – mehr als 500.000 Fälle pro Tag. Der Erfolg zeigt sich in der schnelleren und besseren Patientenversorgung im Krankenhaus.
Intensivmedizin im Netzwerk
Effektive, kapazitätsbildende Maßnahmen sind nötig zur Bewältigung von Pandemien und zur hoch qualitativen Versorgung, sagte Prof. Dr. Carla Nau, Professorin für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Universität zu Lübeck und Direktorin der gleichnamigen Klinik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein am Campus Lübeck. Das Digitale Gesundheitsnetzwerk Intensivmedizin ist die Antwort auf diese Anforderung. Es ermöglicht die Vermeidung lokaler Überlastung des Gesundheitssystems, sichert hoch qualitative evidenzbasierte Versorgung durch Telemedizin, es erlaubt, wissenschaftliche Evidenz durch strukturierte Daten zu generieren und schnell und umfassend zu implementieren.
Das Umfeld für diese Entwicklung ist bereits da, so Nau: Man ist in Deutschland erste Schritte bei Experten- und Netzwerkdatenbanken gegangen wie auch bei der Verbreitung evidenzbasierter Protokolle, Förderung von Interoperabilität, beim Standardisieren von Datenstrukturen, Implementieren von Algorithmen. Die – allerdings befristete – Abrechenbarkeit von Tele-Intensivmedizin durch die G-BA unterstützt diese Entwicklung.
Wohnzimmer statt Wartezimmer
Videosprechstunde und Online-Terminvergabe: Die Richtung der Entwicklung passt, zeigt die Präsentation von Dr. Philipp Stachwitz, Director Medical Care am Health Innovation Hub (HIH). Immer häufiger „kommt der Arzt digital zum Patienten nach Hause“. Wurden im Jahr 2019 noch 3.000 Videosprechstunden durchgeführt, so waren es im Jahr 2020 2,5 Millionen. Corona hat der Videosprechstunde einen starken Schub gegeben. Zu beachten bleibt, dass 75 Prozent dieser Sprechstunden von Psychotherapeuten durchgeführt wurden und 12 bzw. 14 Prozent von Haus- bzw. Kinderärzten. 95 Prozent der Kontakte waren Bestandpatienten. Und der Zugang für die allermeisten Patienten zur Praxis geschieht nach wie vor via Telefon, relativierte Stachwitz. Bei jungen Patienten beginnen sich Systeme wie Doctolib durchzusetzen.
Die „Uberisierung“ unserer Branche hat begonnen, stellte der HIH-Vertreter fest – und beschrieb die Taxi-App Freenow als Beispiel: Die Vorgehensweise funktioniere auch für hoch standardisierte medizinische Leistungen. Vorsichtige Versuche kassenärztlicher Vereinigungen stoßen allerdings auf Akzeptanzschwierigkeiten bei Ärzten: „Ich bin doch kein Franchisenehmer der KBV!“. Da bei Niedergelassenen die „Verdünner“-Scheine junger Patienten sehr willkommen sind, wird sich laut Stachwitz dieser Trend durchsetzen.
Paradigmenwechsel in der Schlaganfallprävention?
Jährlich 270.000 neue Schlaganfälle in Deutschland, neun Milliarden Euro Ausgaben allein für die ambulante und stationäre Versorgung von Schlaganfallpatienten – solche Zahlen waren die Motivation für dpv-analytics, Schlaganfallprophylaxe durch KI-basierte EKG-Auswertung zu entwickeln. Die Vision einer sicheren, modernen und einfach zu handhabenden EKG-Lösung setzen sie in mit einem Mini-EKG „Made in Germany“ in die Realität um, erklärte der Nuklearmediziner Dr. Stephan Kranz. Der „ritmo“ ist ein innovatives, digitales Screening-System mit hoher Sensitivität und Spezifität, das Leistungserbringer dabei unterstützen soll, die Zahl an Schlaganfällen zu reduzieren. Es soll laut Kranz sogar „einen Paradigmenwechsel in der Schlaganfall-Prävention anstoßen“ und das bisherige Langzeit-EKG ablösen: Vordiagnostizieren heißt schnell behandeln.
IoMT kept simple
Für Fern-Monitoring gibt es nun eine Abrechnungsziffer in den USA. In Frankreich kann Telemetrie im Kontext der Herzinsuffizienz abgerechnet werden. Blaupausen auch für Deutschland? „Virtual is the new normal for care delivery“, so Gilles Lunzenfichter. Er arbeitet für Medisanté, einen Anbieter im Bereich Internet of Medical Things (IoMT). Er hatte in seinem Kongresskoffer allerdings auch einen Warnhinweis im Hinblick auf Technologiedurchsetzung: Viele Ältere leben hierzulande noch ohne Smartphone!
Als Weg der Zukunft beschrieb Lunzenfichter die Medisanté-Vernetzungslösung über „direct to cloud“ per mobilfunk – „EIN Gerät, EINE Verbindung weltweit“. Als Anwendungsszenarien für seine herstellerunabhängige Geräte-Cloud nannte er Beispiele wie Blutdruckmessung, Blutdruck und Glukose; die einfache Konfiguration und drei Klicks zur Datenübertragung sind laut dem Schweizer ein Paradebeispiel für Interoperabilität. Rund 50 Systeme sind angeschlossen, als Partner agieren Anbieter und Unikliniken.
Der Tenor
Die Krise mag als Turbo gewirkt haben; einig waren sich die Diskutanten jedoch darüber, dass die Finanzierung des Technologieeinsatzes die ausschlaggebende Rolle für eine Durchsetzung auf Dauer spielt.
12.10.2021