Kombinieren wie Sherlock Holmes

Der geniale Gentleman-Schnüffler Sherlock Holmes sagte einmal über seine analytischen Fähigkeiten: „Das meiste ist Beobachtung. Der Rest ist Schlussfolgerung“.Das gilt nicht nur für die Verbrechensbekämpfung, sondern auch beim Erkennen von pathologischen Befunden.

 Prof. Dr. Jürgen Freyschmidt,
Prof. Dr. Jürgen Freyschmidt,

Mit einer systematischen Vorgehensweise werden so auch scheinbar schwierige Diagnosen zu lösbaren Fällen. Alles eine Frage der Logik, meint auch Prof. Dr. Jürgen Freyschmidt, Leiter der Beratungsstelle und des Referenzzentrums für Osteo-Radiologie in Bremen, das Medizinern aus dem ganzen Bundesgebiet bei unklaren oder komplizierten Befunden weiterhilft. Der renommierteExperte erklärt, wie man Skelettdiagnostik systematisch betreibt.

Herr Professor Freyschmidt, wie kommt man zu einer klinisch brauchbaren Diagnose?

Jürgen Freyschmidt: In den allermeisten Fällen sind Diagnosen gar nicht so schwierig, sondern nur komplex. Wenn mannur systematisch genug vorgeht, kommt man auch zum Ziel. Das Problem ist, dass die Radiologen die Patienten heute vielfach nicht mehr sehen. Der Patient wird vom Zuweiser geschickt, eine MTRA macht die Bilder, und der Radiologe sitzt hinterher in einer dunklen Box und macht eine Bildschirmbefundung. Das ist der Untergang der Radiologie. Ich bin der Meinung, dass wir einen ärztlichen Auftrag haben und nicht nur den Auftrag, Bilder zu generieren. Unser Fach ist ein Schlüsselfach. Allein in der Orthopädie werden fast 100 Prozent der Patienten radiologisch untersucht. Das heißt, wir tragen auch eine hohe Verantwortung.

Wo passieren denn die meisten Fehler?

Jürgen Freyschmidt: Das fängt bereits bei der Untersuchungstechnik an. Wenn man zum Beispiel bei einer Fragestellung, die auf eine ossäre Pathologie hinweist, primär mit einer MRT beginnt, dann besteht die Gefahr, dass man den wesentlichen Befund nicht erfasst, da die MRT den Knochen oder knöcherne Veränderungen nur indirekt darstellt. Geht es hingegen um eine Fragestellung, die auf einen pathologischen Weichgewebsbefund, beispielsweise einen Knochenmarksprozess hinweist, ist es überflüssig, mit einem Röntgenbild oder dem dazugehörigen Schnittbildverfahren, der CT, die radiologische Diagnostik zu beginnen, hier ist die MRT gefragt.

Bei primär ossären Veränderungen in nicht überlagerungsträchtigen Skelettabschnitten ist der Wert desProjektionsradiogrammes grundsätzlich nicht zu unterschätzen, und ein einfaches Röntgenbild reicht oftmals völlig aus, um zu einer klinisch nützlichen Diagnose zu kommen. Dabei sind in der Mehrzahl der Fälle erprobte Engramme hilfreich, die auf einen bestimmten pathoanatomischen Hintergrund hinweisen, wie etwa das Mattglasphänomen für Bindegewebsknochen bei der fibrösen Dysplasie, die graue Kortikalis beieiner Stressfraktur oder das Lodwick-Gradingfür die Aggressivität einerosteolytischen Läsion.Hinzu kommt, dass das Summationsbild häufig wertvolle engrammatische Informationen enthält, die man durch die Schnittbildgebung nicht bekommt. So wird man eine Osteomalazie am Kriterium desRadiergummiphänomens oder einen Hyperparathyreoidismus am Kriterium der netzförmig vergröberten Spongiosazeichnungauf Anhieb richtig erkennen.

Wie wählt man denn das richtige Untersuchungsverfahren?

Jürgen Freyschmidt: Das ist abhängig von der Fragestellung: Nehmen wir an, ein Orthopäde schickt einen jungen Patienten mit belastungsabhängigen Knochenschmerzen im Oberschenkel. Dann beginne ich mit einem Röntgenbild. Dann kann es entweder passieren, dass ich auf der Aufnahme eindeutige Veränderungen, etwa im Sinne einer Stressfraktur, sehe, mit der die Schmerzsymptomatik erklärt ist oder dass ich durch Überlagerung und mangelnde räumliche Zuordnung undefinierbare Veränderungen finde, die eine „Freilegung“ mit CT erfordern, zum Beispiel eine knöcherne oder knorpelige Tumormatrix. Fragt ein Orthopäde nach einem Bandscheibenvorfall, dann ist die MRT das Verfahren der Wahl, fragt ein Onkologe nach dem Ausmaß einer Knochenmetastasierung und einer eventuell damit verbundenen Stabilitätsgefährdung der Wirbelsäule, dann ist die CT das geeignete primäre Untersuchungsverfahren. Doch ohne klinische Symptomatik und Anamnese kommt man selbst mit der besten Methode nicht zum Ziel: Wenn ich etwa durch die CT feststelle, dass es sich um einen enthesitischen Prozess mit begleitender sklerosierender Osteitis handelt, muss ich den Patienten auch nach einer Schuppenflechte befragen oder ihn untersuchen.

Wenn das Untersuchungsverfahren stimmt, wie geht es weiter? 

Jürgen Freyschmidt: Dann wird der Befund erstellt. Dieser muss deskriptiv und zunächst bewertungsfrei sein. Das heißt, man darf nicht gleich von einem Ödem oder einer Zyste sprechen, sondern muss beschreiben, was man sieht. Der nächste Schritt ist die Deutungdes pathologisch-anatomischen Substrates, das hinter einem oder mehreren radiologischen Symptomen steckt. Dabei spielt unter anderem die Lokalisation der Läsion im Knochen und im Skelett eine wichtige Rolle. Bei raumfordernden Veränderungen, die sich in zwei oder mehreren Kompartimenten ausdehnen, ist die Feststellung des Epizentrums von Relevanz. Daran anschließend geht es darum, den Befund einer der sieben bekannten Grundentitäten zuzuordnen, die nach dem Ausschlussverfahren abgerastert werden: Handelt es sich um eine Fehlbildung oder eine Normvariante? Könnte es eine Entzündung sein? Ein Tumor? Steckt eine Durchblutungsstörung dahinter? usw. Erst wenn man den Befund einer Grundentität zuordnen kann, steht die Diagnose, die es aber noch gilt, mit den Symptomen abzugleichen, die Synopse. Wenn dann alles zusammenpasst, ist die Detektivarbeit beendet und der Fall gelöst.

Professor Freyschmidt, vielen Dank für das Gespräch!

 

 

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Im Profil

Prof. Dr. Jürgen Freyschmidt war 24 Jahre lang als Direktor der Klinik für Radiologische Diagnostik und Nuklearmedizin am Klinikum Bremen-Mitte tätig. Er ist heute pensioniert, betreibt am selben Standort aber nach wie vor ein Beratungsbüro und Referenzzentrum für Osteo-Radiologie.

Freyschmidt ist Autor diverser Standardwerke zu Knochen- und Skeletterkrankungen. Wegen seiner Verdienste um die Fort-und Weiterbildung in der Radiologie und als langjähriger Vorsitzender der Akademie für Fort- und Weiterbildung in der Radiologie wurde er mit der Hermann-Rieder-Medaille und der Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Röntgengesellschaft ausgezeichnet. Freyschmidt wurde außerdem mit der founders medal in Gold der International Skeletal Society ausgezeichnet und ist Ehrenmitglied der European Society of Skeletal Radiology (ESSR) und zahlreicher anderer medizinisch-wissenschaftlicher Fachgesellschaften.
 

08.05.2012

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