Quelle: Doctor's Gate/Atsushi Mori
Artikel • Japanisch-deutsche OP-Impressionen
Kann ein Lächeln die Chirurgie retten?
Die Chirurgie hat ein Nachwuchsproblem – soweit waren sich fast alle Experten auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) in Berlin einig. Kontrovers diskutiert wurde dagegen, wie sich die Misere beheben lässt: durch mehr Spezialisten oder zusätzliche „Alleskönner“. Beide Seiten fanden Fürsprecher mit starken Argumenten – doch einige Teilnehmer überraschten mit völlig anderen Ansätzen.
Bericht: Wolfgang Behrends
Die Chirurgie ist einer der Gründe dafür, dass karōshi, also Tod durch Überarbeitung, immer noch ein so großes Thema in Japan ist
Hideo Baba
Um Strategien für mehr Nachwuchs zu erarbeiten, holten die deutschen Chirurgen Hilfe aus Japan ins Boot. Gemeinsam mit ihren Kollegen aus Tokyo, Nagoya und Kumamoto gingen die Experten in der Session „Generalists vs. Specialists“ der Frage auf den Grund, warum das Fach für angehende Mediziner offenbar zunehmend unattraktiv ist.
„Hohe persönliche Risiken bei vergleichsweise mäßiger Bezahlung, dazu ein enormes Arbeitspensum von 60 und mehr Wochenstunden: das macht vielen Chirurgen sehr zu schaffen“, sagte Prof. Hideo Baba. „Die Chirurgie ist einer der Gründe dafür, dass karōshi, also Tod durch Überarbeitung, immer noch ein so großes Thema in Japan ist“, führte der Leiter der Gastrointestinalen Chirurgie an der Kumamoto University aus. Im Endeffekt gibt es dabei nur Verlierer, so Baba: „Überarbeiteten Chirurgen unterlaufen häufiger Behandlungsfehler, darunter leiden die Patienten und das Ansehen der Kliniken.“
Grundsätzlich stellt auch der Personalmangel ein großes Problem für Krankenhäuser dar, befand Prof. Yasuhiro Kodera. „Die Anzahl zertifizierter Chirurgen – und das gilt sowohl für Allgemein- als auch für spezialisierte Chirurgen – ist ein direkter Qualitätsindikator für eine Klinik“, sagte der Leiter der Chirurgie an der Nagoya University. Je höher deren Zahl, desto geringer fällt im Schnitt die Mortalität der Patienten aus. Umso schwerer wiegen die rückläufigen Zahlen von Medizinstudenten, die den chirurgischen Weg einschlagen wollen – ein Phänomen, das sowohl in Deutschland als auch in Japan auftritt.
Theoretische Begeisterung, praktische Ernüchterung
„Dabei wollen viele Studenten in die Chirurgie, wenn sie ihr Studium beginnen“, merkte Dr. Benedikt Braun vom Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg an. Doch die erste Praxiserfahrung im PJ schreckt viele ab: kaum kollegialer Zusammenhalt, schlechte Work-Life-Balance und geringe grundsätzliche Wertschätzung lassen den zu namenlosen Hakenhaltern degradierten Nachwuchs häufig seine Karriereoptionen überdenken. Vor allem Frauen, die traditionell den Löwenanteil der Medizinstudenten stellen, kehren der ruppigen Arbeitsatmosphäre schnell den Rücken. So kann sich anfangs noch fast die Hälfte der Studenten eine Chirurgen-Laufbahn vorstellen, später bleiben davon gerade einmal 7 Prozent übrig. „Das Fach per se ist gut aufgestellt und attraktiv, das Problem sind die Arbeitsbedingungen“, resümiert Braun. Kritisch sieht der Assistenzarzt auch, dass an vielen Kliniken das Thema Nachwuchssicherung kaum auftaucht. „Daran muss sich etwas ändern, dann ist das Problem auch lösbar.“
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Ein Ungleichgewicht zulasten der Allgemeinchirurgen stellte indes Dr. Joachim Jähne fest: „Es gibt einen starken Trend zur Spezialisierung“, sagte der Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie am Diakovere Henriettenstift in Hannover. „Dieser Weg ist für junge Chirurgen attraktiv: Es gibt oft bessere Arbeitszeiten und man kommt raus aus dem stressigen Klinikbetrieb.“ Diese Entwicklung ist typisch für Industrienationen wie Japan und Deutschland – doch auch hier steigt der Bedarf an Chirurgen mit breitem Einsatzbereich an, etwa in der Notfallmedizin oder um die chirurgische Versorgung in ländlichen Gebieten zu sichern. „Deshalb muss es darum gehen, das Fach insgesamt attraktiver für den Nachwuchs zu machen“, fordert Jähne.
„Sie alle folgen dem :)“
Bessere Arbeitszeiten, höhere Gehälter – darauf kommt es für den chirurgischen Nachwuchs gar nicht so sehr an, stellte Prof. Dr. Takao Ohki eine überraschende These auf: „Das Entscheidende ist die Zufriedenheit bei der Arbeit.“ Die Verantwortung dafür sieht der Leiter des Bereichs Gefäßchirurgie an der Jikei University School of Medicine in Tokyo allein bei sich: „Ich kann von meinen Mitarbeitern keine positive Einstellung erwarten, wenn ich ihnen selbst kein Vorbild bin. Deshalb begegne ich ihnen jederzeit mit einem Lächeln. Ich kenne jeden aus unserem Team beim Namen, egal ob Arzt oder Student – das ist längst nicht überall so.“
Diese Strategie der individuellen Wertschätzung hat Erfolg: Seit seiner Ernennung zum Leiter sorgte Ohki dafür, dass die zuvor stagnierenden Zahlen junger Chirurgen in seiner Abteilung einen deutlichen Aufwärtstrend erfahren. „Auch wenn woanders die Wochenarbeitszeiten kürzer sind und das Gehalt höher ist: Die jungen Studenten folgen dem Lächeln – und das Lächeln ist bei uns in der Chirurgie zuhause.“ Dass Prof. Ohki seine Rolle als Vorbild für junge Ärzte ernst nimmt, zeigt sich auch an anderer Stelle: In der Mangareihe „Dr. Tokimeki“ steht er im japanischen Comicstil – stets lächelnd, versteht sich – dem Nachwuchs bei unbekannten oder riskanten Prozeduren zur Seite.
The times they are a-changin’
Dazu gehört auch, dass der Geschäftsführer einer Klinik ein Mediziner sein sollte und kein Betriebswirtschaftler
Hans-Rudolf Raab
Das Selbstverständnis der Faches wird auch heute noch beeinflusst von der Zeit, in der Chirurgie-Ikonen wie Ferdinand Sauerbruch als „Halbgötter in Weiß“ wirkten und lehrten, attestierte Prof. Dr. Hans-Rudolf Raab. „Aber: Die Zeiten ändern sich“, ist der Chirurg aus Oldenburg überzeugt. Als Gefahr für die Chirurgie sieht Raab jedoch das Primat der Ökonomie an vielen Kliniken, unter dem die Autonomie der Chefärzte leidet und damit auch die Qualität der medizinischen Versorgung. „Es ist höchste Zeit, dass wir Chirurgen unser Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört auch, dass der Geschäftsführer einer Klinik ein Mediziner sein sollte und kein Betriebswirtschaftler.“
23.05.2018