Arzneimittelengpässe
Hämatologie & Onkologie: Gefährdung von Patientinnen und Patienten?
Die DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. hat deutliche Kritik an den Arzneimittelengpässen im Bereich der Hämatologie und Onkologie geübt und Maßnahmen gefordert, mit denen Arzneimittelengpässe nach Möglichkeit künftig vermieden, bei Unvermeidbarkeit aber zumindest ohne Gefährdung der Patientinnen und Patienten bewältigt werden können. Eine Zusammenstellung der Arzneimittelengpässe der letzten Jahre und ein Maßnahmenpaket zur Vermeidung hat die Fachgesellschaft jetzt im 9. Band ihrer Gesundheitspolitischen Schriftenreihe veröffentlicht.
Echtes Problem oder Jammern auf hohem Niveau?
Dürfen wir in Deutschland über Arzneimittelengpässe klagen? Aus Sicht vieler anderer Länder erscheint das als Jammern auf hohem Niveau: Die ‚Essential Medicines‘ der World Health Organisation (WHO) sind in Deutschland fast durchgehend verfügbar. Ebenso werden die meisten der von der European Medicines Agency (EMA) neu zugelassenen Arzneimittel kurzfristig auf dem deutschen Markt eingeführt. Prof. Carsten Bokemeyer, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO, machte im Rahmen der Pressekonferenz deutlich, dass es dennoch in Deutschland immer wieder zu Arzneimittelengpässen kommt. „Auch wenn die meisten Arzneimittelengpässe durch logistische Anstrengungen beispielsweise der Apotheken ausgeglichen werden können, ändert das nichts daran, dass es immer wieder zu Entwicklungen kommt, die die optimale Behandlung unserer Patientinnen und Patienten gefährden. Es handelt sich um ein relevantes Problem“, so Bokemeyer, der als Direktor die II. Medizinische Klinik und Poliklinik für den Bereich Onkologie, Hämatologie und Knochenmarktransplantation mit Sektion Pneumologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf leitet.
Arzneimittelengpässe haben vielfältige Ursachen
Dass die Ursachen von Arzneimittelengpässen vielfältig und manchmal multifaktoriell sind, betonte Prof. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der DGHO, und nannte als Hauptursachen Herstellungsprobleme, Bedarfssteigerung und Preisgestaltung.
„Ein Beispiel, bei dem es in den letzten Jahren zu ‚rezidivierenden‘ Arzneimittelengpässen kam, ist das Medikament Melphalan“, so Wörmann. Wenn Arzneimittel nicht mehr dem Patentschutz unterliegen, ist die Herstellung für pharmazeutische Unternehmen ökonomisch weniger attraktiv. Häufig werden entsprechende Arzneimittel weltweit teilweise nur noch in einer einzigen Produktionsstätte hergestellt. Treten dann in der Produktion Qualitätsprobleme auf, kommt es schnell zu bedrohlichen Liefer- und Versorgungsengpässen. „Im Fall von Melphalan ging das zulasten von Patientinnen und Patienten. Das ist für uns als Fachgesellschaft, die sich der optimalen Behandlung von Patientinnen und Patienten mit hämatologischen und onkologischen Erkrankungen verpflichtet sieht, nicht akzeptabel“, so Wörmann.
Zu einem anderen versorgungsrelevanten Arzneimittelengpass, so Prof. Diana Lüftner, Mitglied im Vorstand der DGHO, kam es Ende des vergangenen Jahres beim Lungenkrebsmedikament Osimertinib. Vorausgegangen war ein Streit des Herstellers mit den Krankenkassen über den angemessenen Preis. Im Vorfeld hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen des Verfahrens der Frühen Nutzenbewertung nach Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) den Zusatznutzen von Osimertinib auf Basis der vorgelegten Daten als „nicht belegt“ festgelegt. Dies hatte den Hersteller zur Marktrücknahme bewogen. „Wir haben nach der Marktrücknahme kritisiert, dass zwar alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht haben. Den Schaden aber haben die Patientinnen und Patienten getragen“, so Lüftner. Nach Intervention der Fachgesellschaft kann das Medikament nun – wenn auch mit administrativem Mehraufwand – über internationale Apotheken bezogen werden.
Dass Arzneimittelengpässe nicht nur den Bereich der Hämatologie und Onkologie betreffen, machte Wörmann deutlich. Vor Veröffentlichung des 9. Bandes der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe hatte die DGHO andere wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaften eingeladen, auch die für ihr jeweiliges Fachgebiet relevanten Arzneimittelengpässe zu dokumentieren. „Daraus ist eine beeindruckende und gleichzeitig bedrückende Sammlung geworden, die die Dringlichkeit einer Lösung verdeutlicht“, so Wörmann.
Forderungen der Krankenhausapotheker
Aus Sicht von Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Krankenhausapotheke am Universitätsklinikum Heidelberg, sind Lieferengpässe keine Kavaliersdelikte. Hoppe-Tichy forderte eine Klarstellung im Arzneimittelgesetz (AMG) für die Belieferung der Krankenhäuser. „Die pharmazeutischen Unternehmer müssen im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit eine bedarfsgerechte und kontinuierliche Belieferung der Krankenhausapotheken – und nicht nur der bisher im AMG genannten vollversorgenden Arzneimittelgroßhandlungen – sicherstellen.“ Für den Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker e. V. (ADKA) forderte Hoppe-Tichy eine Lagerhaltungspflicht für Pharmaunternehmen, eine Meldeverpflichtung bei Lieferengpässen seitens der pharmazeutischen Industrie mit Angabe von therapeutischen Alternativen, die Einstufung von Verstößen dagegen als Ordnungswidrigkeit sowie Bürokratieerleichterungen und Vorratshaltung bei Importen nach § 73 Abs. 3 AMG.
Aktuelle Sicht des BfArM
Prof. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), erläuterte die aktuelle Sicht seiner Behörde. „Wir sehen mit Sorge, dass es etwa bei Antibiotika und Zytostatika immer wieder zu Lieferengpässen kommt. Der intensive Austausch mit allen beteiligten Akteuren im Jour fixe und unsere Lieferengpass-Liste, die auf freiwilligen Meldungen der Industrie beruht, sind bereits wichtige Schritte hin zu mehr Transparenz und Versorgungssicherheit für die Patientinnen und Patienten. Nur ein flächendeckendes Bild über relevante Lieferengpässe gibt uns die Möglichkeit, Versorgungslücken frühzeitig zu erkennen und Unterstützung zu leisten bei der Problemlösung. Deshalb beobachten wir sehr genau, ob die bisherigen Maßnahmen ausreichen, oder ob das jetzige Verfahren etwa durch eine Meldeverpflichtung weiterentwickelt werden sollte.“
Maßnahmenpaket zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung
Bokemeyer erklärte, dass die DGHO entsprechende Forderungen in detaillierter Form schon seit Jahren an die Politik richte, diese die Appelle jedoch nicht ausreichend aufgegriffen habe. Das AMG sei in seiner jetzigen Form nur ein stumpfes Schwert, weil eine Nichtbefolgung seitens der pharmazeutischen Unternehmen sowohl straf- als auch ordnungsrechtlich nicht bewehrt sei und so keinerlei Handlungsdruck generiert werde. „Der medizinische Standard in Deutschland ist hoch. Wir dürfen es nicht zulassen, dass er durch vermeidbare Arzneimittelengpässe verschlechtert wird. Aus diesem Grund plädieren wir ausdrücklich für gesetzliche Ermächtigungen, Behörden mit Handlungsmöglichkeiten auszustatten, um bei Versorgungsdefiziten Maßnahmen zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung treffen zu können“, so Bokemeyer.
Zur Verhinderung von Liefer- und Versorgungsengpässen schlägt die DGHO in ihrem 9. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe folgende Maßnahmen vor:
• Implementierung eines Registers mit Meldepflicht
• Schutz unverzichtbarer Arzneimittel
• Vorratshaltung
• Begrenzung von Rabattverhandlungen
• Schaffung von Anreizen zur Bereitstellung versorgungskritischer Arzneimittel
• Erleichterter Import von Arzneimitteln aus dem Ausland
• Anordnung der Bereitstellung zugelassener Arzneimittel
• Behördliches Risikomanagement
• Förderung der pharmazeutischen Industrie in Europa
Quelle: DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie
06.03.2017