Schadet das Medikament Cytotec Schwangeren und Babys? Experten mehrerer...
Schadet das Medikament Cytotec Schwangeren und Babys? Experten mehrerer Fachgesellschaften klären in einer gemeinsamen Stellungnahme über verzerrte Berichterstattung zu diesem Thema auf.

Bildquelle: Unsplash/Dmitry Bayer

News • Umstrittenes Medikament

Cytotec in der Geburtshilfe: Experten nehmen Stellung

Berichte über die Verwendung des umstrittenen Medikaments Cytotec in der Geburtshilfe haben bei vielen Schwangeren für Verunsicherung gesorgt. Experten mehrerer Fachgesellschaften wollen nun mit einer gemeinsamen Stellungnahme Missverständnisse ausräumen und für Aufklärung sorgen.

Zum Hintergrund: Es wurde berichtet, dass mit Cytotec ein Magenmedikament in rund der Hälfte in Rahmen einer Umfrage befragten deutschen Kliniken zur Geburtseinleitung verwendet wird.

Dazu schreiben Experten der Deutschen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie e. V. (DGGG), der Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin e. V. in der DGGG (AGG i. d. DGGG), der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DPGM) e. V., der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin e. V. (DGPGM) sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Ärztinnen und Ärzte in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde e. V. (BLFG): Es sei richtig, dass Cytotec 200 ein Medikament ist, das zum Schutz der Schleimhaut des Magens zugelassen wurde. Der Wirkstoff Misoprostol, ein Prostaglandin-E1-Analogon, habe wie andere Wirkstoffe auch Effekte an verschiedenen Organen. Es führe so zum Beispiel an der Gebärmutter zu einer Reifung des Gebärmutterhalses und Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur, weshalb es auch zur Geburtseinleitung verwendet wird. „Entgegen der Berichterstattung ist der Wirkstoff Misoprostol zur Geburtseinleitung bei geburtshilflichen Experten nicht umstritten, weshalb fast alle Perinatalzentren höchster Ordnung diesen Wirkstoff verwenden. Hierbei wird nicht Cytotec 200 genutzt, sondern ein Misoprostol-Präparat geringerer Dosierung“, betonen die Experten.

Die Behauptung, dass sich die Ärzte hierbei lediglich auf „Erfahrungswerte und Anwendungsbeobachtungen stützen“, sei falsch, so die Fachleute; „es gibt keinen Wirkstoff zur Geburtseinleitung, der ähnlich gut in Studien untersucht wurde.“ Mittlerweile gebe es mehr als 80 randomisiert-kontrollierte Studien zur Verwendung von oralem Misoprostol zur Geburtseinleitung und dutzende randomisiert-kontrollierte Studien zur vaginalen Applikation. „Die Evidenz ist unstrittig: Der Wirkstoff Misoprostol ist das effektivste Medikament zur Geburtseinleitung und führt vor allem bei der oralen Anwendung zu weniger Kaiserschnitten als mit anderen Medikamenten (Dinoproston, Oxytocin),“ so das Fazit der Experten.

Es ist korrekt, dass jedes Medikament potenzielle Nebenwirkungen haben kann. Zu den seltenen Nebenwirkungen von Misoprostol gehören erhöhte Temperatur/Fieber, Zittern und Überstimulation. In der Berichterstattung war die Rede von „seltenen Fällen“, in denen Mütter verstarben, nachdem ihre Gebärmutter nach der Gabe von Cytotec gerissen war und sogar von „vielen mütterlichen Todesfällen“ und mehreren verstorbenen Babys im Zusammenhang mit der Medikamentengabe. Diese Einzelfälle beträfen jedoch vor allem Geburten, bei denen im Vorfeld eine Operation der Gebärmutter (z. B. Kaiserschnitt, Entfernung von Myomen oder Endometriose) erfolgt sei. „Hier gibt es unabhängig von einer Geburtseinleitung immer das Risiko, dass es zu einer Uterusruptur mit entsprechendem erhöhtem Risiko für Mutter und Kind kommen kann. In dieser Situation darf Misoprostol nicht zur Geburtseinleitung verwendet werden, was seit vielen Jahren bekannt ist und im klinischen Alltag beachtet werden muss. Ebenso dürfen Prostaglandin-Präparate (Misoprostol und Dinoproston) nicht gegeben werden, wenn Wehentätigkeit vorhanden ist, da dies zu Überstimulationen („Wehenstürmen“) führen kann.“ Komplikationen wie mütterliche und kindliche Todesfälle sowie peripartale Morbidität würden darüber hinaus sehr wohl im Rahmen der Qualitätserhebung erfasst und an das IQTIQ (Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen) weitergeleitet.

Angesichts dieser ganzen Datenlage sind wir irritiert über die aktuelle einseitige Berichterstattung, die zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren und der in die Betreuung der Schwangeren eingebundenen Fachkräfte führt(e)

Cytotec 200 sei nicht zur Geburtseinleitung zugelassen worden und dürfe daher nur im „Off-Label-Use“ hierfür verwendet werden. „Da Zulassungsstudien fast aller Medikamente Kinder und Schwangere ausschließen, werden in der Geburtshilfe und Kinderheilkunde überwiegend Antibiotika, Bluthochdruckmittel und Medikamente zur kindlichen Lungenreifung „off-label“ angewendet. Auch die in der Berichterstattung erwähnten zugelassenen Alternativen (Prostaglandine, Oxytocin) zur Geburtseinleitung sind nur in bestimmten Situationen je nach Gebärmutterhalsbefund zugelassen. Nicht erwähnt wurde in der Berichterstattung, dass der Wirkstoff Misoprostol in vielen Ländern zur Geburtseinleitung zugelassen wurde – und somit eher eine Besonderheit in Deutschland besteht.“ Diese Präparate heißen nicht Cytotec, sondern beispielsweise Angusta oder Vagiprost. Auch wenn manche internationale Gesundheitsbehörden wie die französische ANSM vor Cytotec warnten, wurde dort das niedriger dosierte Misoprostol-Präparat Angusta genauso wie in allen skandinavischen Ländern zur Geburtseinleitung zugelassen. Nachdem es bis zum letzten Jahr mit Misodel ein zugelassenes Misoprostol-Präparat zur Geburtseinleitung in Deutschland gab, soll auch Ende 2020 in Deutschland mit der Zulassung von Angusta gestartet werden.

„Angesichts dieser ganzen Datenlage sind wir irritiert über die aktuelle einseitige Berichterstattung, die zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren und der in die Betreuung der Schwangeren eingebundenen Fachkräfte führt(e)“, fassen die Experten zusammen.

„Die Frauenärztinnen und Frauenärzte in Deutschland engagieren sich seit Jahren für eine hohe Qualität auch in der Geburtshilfe. Daher werden Komplikationen kontinuierlich erfasst und diese an zentrale Stellen gemeldet. Wir können aus den Daten entgegen der Berichterstattung schlussfolgern, dass Frauen, die zur Geburt eingeleitet werden (und keine Gebärmutteroperation in der Anamnese haben) sogar ein niedrigeres Risiko für schwere Komplikationen erleiden. Hinsichtlich der kindlichen Komplikationsraten muss immer das Risiko berücksichtigt werden, das zur Einleitung geführt hat.“

Aktuell ist eine S2k-Leitlinie zur Geburtseinleitung der DGGG, der SGGG (Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) und der OEGGG (Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) in Erstellung. Nach Sichtung der Literatur wird die Verwendung von Misoprostol zur Geburtseinleitung in der DACH-Region im Einklang mit den  anderen internationalen Leitlinien, z. B. USA (ACOG, American College of Obstetricians), Kanada (SOGC, Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada), Großbritannien (NICE, National Institute for Health and Care Excellence) und Frankreich (CNGOF, French national college of obstetricians and gynecologists), sowie der FIGO (International Federation of Gynaecology and Obstetrics) und der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization) empfohlen werden.

Die Stellungnahme wurde von Prof. Dr. habil. Sven Kehl und Prof. Dr. Michael Abou-Dakn verfasst.


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie e. V. (DGGG) / Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin e. V. in der DGGG (AGG i. d. DGGG) / Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DPGM) e. V. / Deutsche Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin e. V. (DGPGM) / Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Ärztinnen und Ärzte in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde e. V. (BLFG)

14.02.2020

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