News • Neuropilin-1 als 'COVID-Helfer'
Coronavirus: Studie entdeckt weiteren Türöffner in die Zelle
Ein internationales Forschungsteam unter deutsch-finnischer Federführung hat jetzt Neuropilin-1 als Faktor identifiziert, der den Eintritt von SARS-CoV-2 über den bekannten Rezeptor ACE 2 in das Innere der Zellen offenbar erleichtert.
Bildquelle: DZNE/Liliana Pedro-Domingues
Neuropilin-1 ist in den Schleimhäuten der Atemwege und der Nase zu finden, was eine strategisch wichtige Verortung sein könnte, um zum Infektionsgeschehen und zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 beizutragen. Fachleute des DZNE, der Technischen Universität München, der Universitätsmedizin Göttingen, der Universität Helsinki und weiterer Forschungseinrichtungen haben ihre Erkenntnisse nun im Fachjournal „Science“ veröffentlicht.
Ausgangspunkt unserer Studie war die Frage, warum SARS-CoV und SARS-CoV-2, die beide ACE2 als Rezeptor nutzen, unterschiedliche Krankheiten verursachen
Mikael Simons
Das Coronavirus SARS-CoV-2 kann verschiedene Organe wie Lunge und Nieren befallen und auch neurologische Symptome auslösen, darunter einen vorübergehenden Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns. Das Spektrum der Symptome der damit einhergehenden Erkrankung – bekannt als COVID-19 – ist daher recht vielfältig. Ein verwandtes Virus, SARS-CoV, führte 2003 zu einem viel kleineren Ausbruch, möglicherweise weil die Infektion auf die unteren Atemwege beschränkt war: Dadurch wurde jenes Virus weniger übertragbar. Im Gegensatz dazu infiziert SARS-CoV-2 zusätzlich die oberen Atemwege einschließlich der Nasenschleimhaut und breitet sich in der Folge durch Virenausstoß – z.B. beim Niesen – schnell aus.
Der Gewebetropismus spiegelt die Fähigkeit eines Virus wider, bestimmte Zelltypen in verschiedenen Organen zu infizieren. Er wird durch das Vorhandensein von Andockstellen, sogenannten Rezeptoren, auf der Oberfläche der Zellen bestimmt. Diese ermöglichen das Andocken und Eindringen in die Zellen. „Ausgangspunkt unserer Studie war die Frage, warum SARS-CoV und SARS-CoV-2, die beide ACE2 als Rezeptor nutzen, unterschiedliche Krankheiten verursachen", erklärt Mikael Simons, Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort München und Professor für molekulare Neurobiologie an der Technischen Universität München, dessen Team an den aktuellen Untersuchungen beteiligt war, zusammen mit Prof. Giuseppe Balistreris Forschungsgruppe an der Universität von Helsinki.
Um zu verstehen, wie sich Unterschiede in den Gewebetropismen erklären lassen, warfen die Forschenden einen Blick auf die viralen "Spike-Proteine", die das Virus für das Eindringen in die Zelle benötigt. „Das SARS-CoV-2-Spike-Protein unterscheidet sich von seinem älteren Verwandten durch die Einfügung einer Furin-Spaltstelle ", sagt Simons. „Ähnliche Spaltstellen finden sich in den Spike-Proteinen vieler anderer hochpathogener menschlicher Viren. Als wir erkannten, dass diese Furin-Spaltstelle im SARS-CoV-2-Spike-Protein vorhanden ist, dachten wir, dass uns dies zur Antwort führen könnte“. Wenn Proteine durch Furin gespalten werden, wird eine spezifische Aminosäuresequenz am gespaltenen Ende freigelegt. Solche furingespaltenen Substrate weisen ein charakteristisches Muster auf, von dem bekannt ist, dass es an der Zelloberfläche an Neuropiline bindet.
Experimente mit im Labor kultivierten Zellen in Verbindung sowohl mit künstlichen Viren, die SARS-CoV-2 imitieren, als auch mit natürlich vorkommenden Viren deuten darauf hin, dass Neuropilin-1 in der Lage ist, die Infektion „in Begleitung“ von ACE2 zu fördern. Durch die spezifische Blockierung von Neuropilin-1 mit Antikörpern konnte die Infektion unterdrückt werden. "Wenn man sich ACE2 als Eintrittstür in die Zelle vorstellt, dann könnte Neuropilin-1 ein Faktor sein, der das Virus zur Tür lenkt. ACE2 wird in den meisten Zellen in sehr geringen Mengen exprimiert. Daher ist es für das Virus nicht leicht, Türen zum Eindringen zu finden. Andere Faktoren wie Neuropilin-1 scheinen notwendig zu sein, um dem Virus zu helfen", erklärt Simons.
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Einige Menschen, die an COVID-19 erkrankt waren, leiden noch Wochen und Monate nach der akuten Erkrankung an deren Folgen. Zu den Symptomen gehören Müdigkeit, verminderte körperliche Belastbarkeit, Konzentrationsschwäche, Atemprobleme und Geschmacks- oder Geruchsverlust.
Da Geruchsverlust zu den Symptomen von COVID-19 gehört und Neuropilin-1 vor allem in der Zellschicht der Nasenhöhle zu finden ist, untersuchten die Wissenschaftler Gewebeproben von verstorbenen Patienten. „Wir wollten herausfinden, ob Körperzellen, die mit Neuropilin-1 ausgestattet waren, tatsächlich mit SARS-CoV-2 infiziert sind, und stellten fest, dass dies der Fall ist“, sagt Simons. Weitere Experimente an Mäusen zeigten, dass Neuropilin-1 den Transport winziger, virusgroßer Partikel von der Nasenschleimhaut zum zentralen Nervensystem ermöglicht. Diese Nanopartikel wurden chemisch so hergestellt, dass sie an Neuropilin-1 binden. Als die Nanopartikel über die Nase der Tiere verabreicht wurden, erreichten sie innerhalb weniger Stunden Nervenzellen und Kapillargefässe des Gehirns ─ im Gegensatz zu Kontrollpartikel ohne Affinität zu Neuropilin-1. „Wir konnten feststellen, dass Neuropilin-1, zumindest unter den Bedingungen unserer Experimente, den Transport ins Gehirn fördert. Wir können jedoch keine Schlussfolgerung ziehen, ob dies auch auf SARS-CoV-2 zutrifft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Transportweg bei den meisten Patienten durch das Immunsystem unterdrückt wird“, sagt Simons.
"SARS-CoV-2 benötigt den ACE2-Rezeptor, um in Zellen einzudringen, aber andere Faktoren wie Neuropilin-1 sind möglicherweise erforderlich, um dessen Funktion zu unterstützen“, so Simons. „Über die molekularen Prozesse, die dabei eine Rolle spielen, können wir derzeit jedoch nur spekulieren. Vermutlich fängt Neuropilin-1 das Virus auf und lenkt es zu ACE2. Zur Klärung dieser Frage sind weitere Untersuchungen notwendig. Es ist derzeit noch zu früh, um darüber zu spekulieren, ob die Blockierung von Neuropilin ein möglicher therapeutischer Ansatz sein könnte. Damit müssen sich zukünftige Studien befassen.“
Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
21.10.2020