Artikel • Maschinelles Lernen

Clinical Data Science: Gute Antworten auf relevante Fragen

Mehr Informationen aus Daten zu gewinnen und die daraus resultierenden Erkenntnisse in die klinische Praxis zu überführen: Zu diesem Zweck setzt der Clinical-Data-Science-Schwerpunkt an der Klinik und Poliklinik für Radiologie am Klinikum der Universität München auf maschinelles Lernen.

„Die Digitalisierung ist in der Radiologie schon sehr weit fortgeschritten – das bedeutet, dass die großen Datenmengen, die z.B. in der Bildgebung generiert werden, gut zugänglich sind“, weiß Dr. Michael Ingrisch, Head of Clinical Data Science an der Klinik und Poliklinik für Radiologie am Klinikum der Universität München: „Nun geht es darum, diese Daten möglichst gut zu nutzen.“ Dazu müssen diagnostische Informationen aus der Bildgebung, dem Labor, der Pathologie, oder auch Bereichen wie Genetik, Proteomics, Metabolomics und anderen zusammengeführt, miteinander verknüpft und im Hinblick auf die relevanten Parameter und natürlich die klinischen Endpunkte ausgewertet werden. „Für die Analyse von solchen hochdimensionalen Datensätze stellt die Data Science heute leistungsfähige Algorithmen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz und dem machine learning bereit. Damit können wir mehr Information als bisher aus Daten extrahieren, tiefere Einblicke gewinnen und letztlich therapeutische Entscheidungen auf einer möglichst fundierten Basis treffen“, bekräftigt Ingrisch.

Tumor-Segmentierung (links) und Segmentierung der gesamten Leber.
Tumor-Segmentierung (links) und Segmentierung der gesamten Leber.

Clinical Data Science – was ist das eigentlich?

Clinical Data Science meint dabei alle Aktivitäten in der Radiologie, die mit Künstlicher Intelligenz – wozu eben auch maschinelles Lernen gehört – zusammenhängen. Deren Einsatzmöglichkeiten beginnen bei der Bildrekonstruktion und reichen weiter über die Bildinterpretation, die Datenintegration, bis zur Diagnose, Prognose sowie Therapieentscheidung. Voraussetzung dafür ist freilich Interdisziplinarität. Im Rahmen des Clinical-Data-Science-Schwerpunkts an der Klinik und Poliklinik für Radiologie – eine Initiative des Physikers Ingrisch und des Radiologen Prof. Dr. Clemens Cyran – arbeiten Radiologen, Physiker, Datenwissenschaftler und Informatiker eng zusammen. Nur so sei es möglich, Produkte zu entwickeln, mit denen Radiologen auch etwas anfangen können: „Eine Antwort auf eine irrelevante Frage zu liefern, bringt nichts für den klinischen Alltag. Das passiert aber leicht, wenn man nicht in engem Kontakt mit den Klinikern steht“, sagt Ingrisch.

Das Erfolgsrezept sind präzise Antworten auf klinisch relevante Fragen: Dem Münchner Physiker und seinem Team ist es zum Beispiel gelungen, mit maschinellem Lernen das Ansprechen einer Radioembolisation bei Patienten mit Lebertumoren gut vorherzusagen [doi: 10.2967/jnumed.117.200758]. Dazu stützen sie sich auf ganz gewöhnliche prätherapeutische Parameter. Es stellte sich unter anderem heraus, dass z.B. die Level von Cholinesterase und Bilirubin im Blut großen Einfluss auf die Überlebenszeit der Patienten haben. „Vor allem konnten wir durch den machine-learning-Ansatz einen stark nichtlinearen Einfluss dieser Parameter identifizieren – das wäre uns mit herkömmlichen Methoden nicht gelungen“, berichtet Ingrisch: „Künftig können wir auf dieser Basis Therapieentscheidungen möglicherweise genauer zu treffen.“

portrait of michael ingrisch
Dr. Michael Ingrisch ist Head of Clinical Data Science an der Klinik und Poliklinik für Radiologie am Klinikum der Universität München.

Ein anderes Machine-Learning-Modell der Münchner Forscher hat bestätigt, dass bei Gliomen der WHO-Grade II und III eine Mutation des IDH-Gens (Isocitrat-Dehydrogenase) die größte prognostische Aussagekraft hat [doi: 10.1016/j.ejca.2018.10.019]. „Dieses Ergebnis entspricht den kürzlich aktualisierten Leitlinien zur Klassifikation von Hirntumoren“, betont Ingrisch. „Vor allem hat unser Modell aber aufgezeigt, dass die Kontrastmittelaufnahme des Tumors alleine wenig aussagt – erst in komplementärer Zusammenschau mit dem IDH-Mutationsstatus kann der prognostische Wert der Kontrastmittelaufnahme richtig eingeschätzt werden“. Dieses Ergebnis unterstreicht die Wichtigkeit der Datenintegration – also des Zusammenführens von verschiedenen Datenquellen.

„Diese Ergebnisse haben eindeutig klinische Relevanz“, betont der Münchner Physiker: „Bis sie aber tatsächlich in der klinischen Praxis ankommen, ist es oft noch ein weiter Weg.“ Denn es handelt sich um Auswertungen von retrospektiven Daten, also Daten, die eigentlich für andere Studien generiert wurden. Eine retrospektive Studie ist allerdings bei weitem nicht so aussagekräftig wie eine, die speziell für eine bestimmte Fragestellung aufgesetzt wurde. „Solche Beobachtungen müssen erst in prospektiven Studien validiert werden, erst dann können sie Eingang finden in Leitlinien und die klinische Praxis finden“, weiß Ingrisch. Allerdings gilt das nicht für alle Anwendungen.

Denn Clinical Data Science umfasst noch einen weiteren Aspekt: Wie können die gewonnenen Erkenntnisse rasch und ohne den mühsamen Weg über eine prospektive Studie in die klinische Routine überführt werden? „Da geht es gar nicht darum, eine möglichst genaue Diagnose oder Prognose zu stellen, sondern dem Radiologen die Arbeit zu erleichtern“, wie Ingrisch erläutert. In der Klinik und Poliklinik für Radiologie am Klinikum der Universität München laufen derzeit zwei Projekte, die in diese Richtung gehen: Zum einen soll die Quantifizierung von Hirnvolumina (Hirnvolumetrie) zu einer präziseren Diagnostik bei dementen Patienten führen, zum anderen soll die Computerunterstützung bei der Befundung von Thorax-Röntgenbildern verbessert werden.

Mit einem solchen System lässt sich der Workflow massiv optimieren, wenn man es geschickt einsetzt

Michael Ingrisch

„In unserer Abteilung für konventionelles Röntgen haben wir mehrere Assistenzärzte, die den ganzen Tag hauptsächlich Röntgenaufnahmen des Thorax von Intensivpatienten befunden“, schildert Ingrisch. Dabei gehe es um Fragen wie: Liegt der Zentralvenenkatheter richtig? Ist ein Pneumothorax im Vergleich zum Vortag größer oder kleiner geworden? „Hätten wir ein Computersystem, das die Thoraxaufnahmen priorisiert, so dass zuerst die befundet werden, die eine unmittelbare Reaktion erfordern – etwa einen Katheter wieder richtig zu legen – dann wäre im Sinne der Qualität und des Risikomanagements sehr viel gewonnen“, bekräftigt Ingrisch.

Dabei müsse es sich um kein besonders exaktes System handeln. Zur Illustration verweist Ingrisch auf eine (Fremd-)Publikation in „Nature“ aus dem Jahr 2018 [doi: 10.1038/s41746-017-0015-z]: US-Radiologen haben eine Methode entwickelt, mit der sich interkranielle Blutungen automatisiert detektieren lassen. Dabei kommt es gar nicht auf das letzte Zehntelprozent Genauigkeit an, denn das System wird lediglich dazu eingesetzt, um im Notfallsetting jene Patienten zu priorisieren und zuerst zu befunden, bei denen ein Verdacht auf intrakranielle Blutungen besteht. Auf diese Weise konnte bei den betreffenden Patienten die Zeit zwischen der Durchführung der Schädel-CT und der Befunderstellung von 500 auf 19 Minuten reduziert werden. „Bei einer Gehirnblutung macht das einen gewaltigen Unterschied“, unterstreicht Ingrisch: „Mit einem solchen System lässt sich der Workflow massiv optimieren, wenn man es geschickt einsetzt.“


Profil:
Dr. Michael Ingrisch ist Head of Clinical Data Science an der Klinik und Poliklinik für Radiologie am Klinikum der Universität München. Der Physiker, der bereits als PhD-Student an die Münchner Universitätsklinik kam, ist spezialisiert auf die multiparametrische Auswertung von radiologischen Bilddaten sowie auf dynamische kontrastverstärkte MRT zur Quantifizierung der Hämodynamik in verschiedenen Organen und Geweben. Der von ihm geleitete Schwerpunkt Clinical Data Science umfasst alle Aktivitäten in der Radiologie, die mit Künstlicher Intelligenz zusammenhängen.

16.01.2019

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