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News • Arzt-Patienten-Gespräch
Sehverlust und Stress: Wenn der Arzt alles schlimmer macht
Niemand hört gerne von seinem Arzt, dass er das Augenlicht verlieren wird. Im schlechtesten Fall verschlimmert bereits die Aussage den Verlauf einer Erkrankung. Wissenschaftler des Universitätsklinikums Magdeburg haben erforscht, wie sich der dadurch entstehende psychische Stress auf den Sehverlust auswirkt – und wie Ärzte diesen Teufelskreis durchbrechen können.
Kontinuierlicher Stress und langfristig erhöhte Cortisolwerte können sich negativ auf das Auge und das Gehirn auswirken
Bernhard Sabel
Das Dilemma lautet wie folgt: Dauerhafter psychischer Stress ist nicht nur eine mögliche Ursache für den Verlust der Sehkraft, sondern wird auch durch die Erkrankung selbst verstärkt. Wer gestresst ist, kann dadurch also sein Sehvermögen einbüßen, was wiederum zu mehr Stress führt und infolge dessen zu weiterer Sehverschlechterung. "Es gibt deutliche Hinweise auf eine psychosomatische Komponente des Sehverlustes, denn Stress ist eine wichtige Ursache – und nicht nur eine Folge – des fortschreitenden Sehverlustes infolge von Erkrankungen wie Glaukom und Optikusneuropathie", sagt der Leiter der Studie, Prof. Dr. Bernhard Sabel, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Magdeburg. Die Wissenschafter haben ihre Erkenntnisse im Journal der European Association for Predictive, Preventive, and Personalized Medicine (EPMA Journal) veröffentlicht.
Doch was bedeutet das für die Praxis? Die Autoren empfehlen, beim Arzt-Patient-Gespräch nicht nur die eigentliche Erkrankung in den Fokus zu rücken, sondern auch über Maßnahmen zum Stressabbau, z. B. durch psychologische Beratung, zu sprechen. So soll der Teufelskreis von Stress und fortschreitendem Sehverlust durchbrochen werden. Prof. Sabel hat einen ganzheitlichen Behandlungsansatz entwickelt, der Stressmanagement, Patientenaufklärung und Techniken zur Wiederherstellung der Sehkraft am SAVIR-Center für Sehstörungen in Magdeburg kombiniert.
In der Studie, die im November 2018 auf der 5. Internationalen Konferenz "Low Vision and Brain" in Berlin vorgestellt wird, analysieren die Wissenschaftler Hunderte veröffentlichter Forschungsergebnisse und klinischer Berichte über den Zusammenhang von Stress und Augenerkrankungen. So zeigen einige Fallberichte auf, wie Stress den Sehverlust induziert und wie Stressabbau die Wiederherstellung des Sehvermögens begünstigt. "Kontinuierlicher Stress und langfristig erhöhte Cortisolwerte können sich negativ auf das Auge und das Gehirn auswirken, da das vegetative Nervensystem unausgeglichen ist, die Blutgefäße dysreguliert werden und der Augeninnendruck steigt", erklärt Prof. Sabel. Diese Zusammenhänge sind bislang kaum in der medizinischen Literatur dokumentiert und finden daher auch wenig Beachtung in der Praxis.
"Das Verhalten und die Worte des behandelnden Arztes können weitreichende Folgen für die Prognose des Sehverlustes haben. Vielen Patienten wird gesagt, die Prognose sei schlecht und daß sie sich darauf vorbereiten sollten, eines Tages blind zu werden. Selbst wenn dies bei weitem nicht sicher ist und eine vollständige Blindheit fast nie auftritt, bilden die daraus resultierende Angst und Besorgnis eine neurologische und psychologische Doppelbelastung mit physiologischen Folgen, die den Krankheitszustand oft verschlechtern", fügt Dr. Muneeb Faiq, PhD, All India Institute of Medical Sciences, New Delhi, Indien, und Department of Ophthalmology, NYU Langone Health, New York University School of Medicine, und ein Co-Investigator der Studie, hinzu. Erhöhter Augeninnendruck, endotheliale Dysfunktion (Flammer-Syndrom) und Entzündungen sind einige der Folgen von Stress, die weitere Schäden verursachen.
Ein ganzheitlicher Behandlungsansatz aus Entspannung, Wiederherstellung des Sehvermögens, Angstmanagement und sozialer Unterstützung wird empfohlen, um den Stress zu mindern und das vegetative System zu stabilisieren. In Kombination mit Therapien zu besseren Durchblutung des Auges wurde so bereits erfolgreich das Fenster für die Wiederherstellung des Sehvermögens geöffnet. Stressreduktions- und Entspannungstechniken (z. B. Meditation, autogenes Training, Stressmanagement-Training, Psychotherapie) sollten daher nicht nur die traditionelle Behandlungen des Sehverlustes ergänzen, sondern auch als potentiell präventive Mittel gegen das Fortschreiten des Sehverlustes betrachtet werden.
Ein zentrales Puzzleteil ist dabei das Verhalten der behandelnden Ärzte, die eine positive Einstellung und Optimismus vermitteln und dabei auch Betreuer und Familie des Patienten einbeziehen sollten. Prof. Sabel: „Eine ganzheitliche Ergänzung der augenärztlichen Behandlungen etwa mit Elektrostimulation und Entspannungsverfahren bietet neue Chancen, die Sehleistung bei Erkrankungen wie dem Glaukom oder der Schädigung des Sehnervs zu verbessern.“
Weitere klinische Studien sollen dazu beitragen, die vielversprechenden Ergebnisse der Magdeburger Forscher zu untermauern und die kausale Rolle von Stress bei Erkrankungen mit niedrigem Sehvermögen zu bestätigen.
Quelle: Universitätsklinikum Magdeburg
11.07.2018