Erstautoren und Leiter der Studie an der Medizinischen Fakultät (von links):...
Erstautoren und Leiter der Studie an der Medizinischen Fakultät (von links): Obere Reihe: Florian Gerstner, Dr. Christian Simon, Christian Menedo; untere Reihe: Sandra Wittig, Sayan Ruwald.

Bildquelle: Universität Leipzig; Foto: Dr. Beatriz Blanco Redondo

News • Forschung zu Muskelschwäche

Spinale Muskelatrophie spielt sich nicht nur im Rückenmark ab

Die spinale Muskelatrophie beeinträchtigt alle Muskeln des Körpers. Sie galt lange Zeit als eine Erkrankung, die ausschließlich durch den Verlust von Nervenzellen im Rückenmark verursacht wird.

Ein Forschungsteam des Carl-Ludwig-Instituts für Physiologie der Universität Leipzig konnte nun zeigen, dass zudem das Kleinhirn, das für die Bewegungskoordination wichtig ist, aber auch soziale und kognitive Prozesse beeinflusst, eine Rolle bei der Entstehung der spinalen Muskelatrophie spielt. Die Studie wurde im Journal "Brain" veröffentlicht

Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung von Nervenzellen des Rückenmarks, die schon im Säuglingsalter auftreten kann. Die Erkrankung führt zu einem fortschreitenden Verlust von Muskelkraft. Betroffene leiden oft schon früh an Muskelschwäche sowie Schwierigkeiten bei Bewegung, Atmung und Schlucken. Durch den medizinischen Fortschritt stehen mittlerweile Therapien zur Verfügung, die das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Dennoch bleiben motorische Einschränkungen bestehen, und es treten zunehmend kognitive und soziale Auffälligkeiten auf. 

Die aktuellen Befunde [liefern] eine mögliche Erklärung für die anhaltenden motorischen Einschränkungen und die neu auftretenden sozialen sowie kognitiven Probleme von Patienten trotz moderner Therapien

Christian Simon

Die spinale Muskelatrophie wurde lange Zeit ausschließlich als eine Erkrankung der Motoneurone verstanden, bei der jene Nervenzellen ihre Funktion verlieren, die direkt für die Ansteuerung der Muskulatur verantwortlich sind. In den vergangenen Jahren konnten Wissenschaftler zeigen, dass auch andere Nervenzellen im Rückenmark, die die Muskulatur nicht direkt steuern, zur Krankheit beitragen. Basierend auf diesen Ergebnissen haben Forscher des Carl-Ludwig-Instituts für Physiologie nun untersucht, ob weitere Regionen des Nervensystems an der Entstehung der spinalen Muskelatrophie beteiligt sind. 

In der aktuellen Studie fanden sie heraus, dass auch das Kleinhirn zur Krankheitsentstehung beiträgt. „Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass das Kleinhirn nicht nur von der Krankheit betroffen, sondern ein eigenständiger Treiber der Symptome ist. Damit liefern die aktuellen Befunde eine mögliche Erklärung für die anhaltenden motorischen Einschränkungen und die neu auftretenden sozialen sowie kognitiven Probleme von Patienten trotz moderner Therapien“, sagt Dr. Christian Simon, Leiter der Studie und Wissenschaftler an der Medizinischen Fakultät. 

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Bei schwerer spinaler Muskelatrophie verlieren die Nervenzellen im Kleinhirn wichtige Verbindungen: Synapsen der Körnerzellen (magenta) gehen zugrunde, und Purkinje-Zellen (grün) sterben ab. Diese Störungen im Kleinhirn tragen dazu bei, dass betroffene Mäuse Bewegungs- und Kommunikationsprobleme entwickeln.

Bildquelle: Universität Leipzig; Abbildung: Dr. Christian Simon 

Bei den Untersuchungen konnten die Leipziger Forscher nachweisen, dass Purkinje-Zellen – zentrale Nervenzellen des Kleinhirns – bei spinaler Muskelatrophie geschädigt werden. Ursache ist die Aktivierung eines bestimmten Signalwegs, der zum Zelltod und zu erheblichen Störungen in den Netzwerken des Kleinhirns führt. Die Folgen zeigten sich im Mausmodell: Tiere mit spinaler Muskelatrophie wiesen neben motorischen Beeinträchtigungen auch eine deutlich verringerte kommunikative Aktivität auf, die sich in reduzierten Ultraschallvokalisationen äußerte, also hochfrequenten Lauten, mit denen Mäuse normalerweise kommunizieren. Durch die gezielte Wiederherstellung des fehlenden Proteins in den Purkinje-Zellen konnten sowohl die motorischen als auch sozialen Defizite teilweise verbessert werden. 

Das Carl-Ludwig-Institut für Physiologie verfügt über eine ausgewiesene Expertise in der Kleinhirnphysiologie. Für die aktuellen Untersuchungen wurden hochauflösende Bildgebung und Patch-Clamp-Messungen an Kleinhirnschnitten von Mäusen genutzt. Zusätzlich setzten die Leipziger Wissenschaftler virale Vektoren ein, um die Genexpression der Mäuse gezielt zu manipulieren. 

Eine Besonderheit der wissenschaftlichen Arbeit: Drei der vier Erstautoren sind Studierende der Humanmedizin und haben im Rahmen ihrer Promotionsarbeit zu dieser Publikation beigetragen. Sie wurden dabei teilweise durch Promotionsstipendien der Medizinischen Fakultät gefördert. Internationale Kooperationen mit der Columbia University, der Johns Hopkins University und der Universität Ulm haben das Projekt maßgeblich unterstützt. „Unsere Forschung liefert eine wichtige Basis für weitere Studien, die die Veränderungen im Kleinhirn bei spinaler Muskelatrophie in größeren Gruppen von Patient:innen untersuchen sollen. Als nächsten Schritt wollen wir vorhandene Therapien an unseren Mausmodellen testen, um zu prüfen, ob sich die Veränderungen im Kleinhirn und die damit verbundenen sozialen Symptome bei der Erkrankung verbessern lassen“, erklärt Dr. Simon. 


Quelle: Universität Leipzig; Text: Anne Grimm  

06.10.2025

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