Foto: HiE/Behrends
Interview • Pro und contra Widerspruchslösung
Organspende: „Die Debatte wird überraschend sachlich geführt“
Die so genannte Widerspruchlösung steht in Deutschland momentan in der politischen und medialen Debatte. In den meisten europäischen Ländern gibt es sie bereits. In Deutschland gilt hingegen – noch – die Zustimmungslösung: Der Bürger muss zu Lebzeiten einer Organentnahme aktiv zugestimmt haben. Zur Widerspruchlösung kursieren momentan viele Unklarheiten in der Bevölkerung: Bin ich automatisch Spender, wenn ich nicht widersprochen habe? Wo soll der Widerspruch dokumentiert werden? Um Klarheit zu schaffen, sprachen wir mit Univ.-Prof. Dr. med. Paolo Fornara, Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Urologie in Halle (Saale) und federführender ärztlicher Interessenvertreter bei diesem Thema.
Interview: Eva Britsch
Sie sind Direktor eines Nierentransplantationszentrums. Freut es Sie, dass die sogenannte „Widerspruchslösung“ eine immer breitere politische Basis zu gewinnen scheint?
Ich begrüße das sehr! Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie habe ich die Gesellschaft in eine Stellungnahme „Pro Widerspruchslösung“ geführt. Wir fordern aber auch ein Paket von Systemkorrekturen. Die Widerspruchslösung alleine reicht nicht.
Was spricht aus Ihrer Sicht für die Widerspruchslösung – was dagegen?
Eine Entlastung der Angehörigen spricht dafür. Wenn sich jemand nicht entscheidet, dann wird in einer ohnehin sehr schwierigen Situation der Angehörige noch mit der Frage konfrontiert, ob er mit der Organentnahme einverstanden ist. Das ist dem Angehörigen aus verschiedenen Gründen nicht zuzumuten: In diesem Moment erfährt er, dass ein lieber Mensch gestorben ist und muss in dieser Situation noch über die Organentnahme entscheiden. Punkt zwei: Er entscheidet stellvertretend in der mutmaßlichen Interpretation und er weiß nicht, ob der Angehörige so entschieden hätte. Viele Angehörige hadern ein Leben lang mit ihrer Entscheidung. Und dann gibt es noch die Hoheit der Entscheidung des Einzelnen – die Entscheidung über eine Organentnahme ist eigentlich nur von dem Spender selbst zu treffen.
Deutschland ist mit der jetzigen Regelung ein Sonderfall?
In Europa gibt es 25 Länder, die die Widerspruchslösung haben, das sind ganz unterschiedliche Länder. Neu dazugekommen ist Holland. In einigen Ländern gibt es die doppelte Widerspruchslösung, die nun auch Gesundheitsminister Spahn vorschlägt. Dabei soll jeder für sich entscheiden, ob er mit der Entnahme seiner Organe einverstanden ist oder nicht – oder sich nicht sicher ist. Liegt kein ausdrücklicher Widerspruch vor, werden die Angehörigen gefragt. Sie haben ein Vetorecht.
Welche anderen Lösungen gibt es?
Es gibt nur 5 Länder, die die Zustimmungslösung nutzen. Eins davon ist die Schweiz. Da gibt es allerdings gerade ein Volksbegehren zur Einführung der Widerspruchslösung.
Wie sollte das Datenmanagement bei der Widerspruchslösung aussehen? Konkret: Wo wird der Widerspruch festgehalten, auf einem Ausweis oder in einer Datenbank?
International gibt es Beispiele: In Deutschland leben wir allerdings was die Digitalisierung der Medizin anbelangt in der Steinzeit. Wir sind nicht in der Lage, eine individuelle Gesundheitscloud zu etablieren, die zum Beispiel Italien und Polen längst haben. Vorgesehen ist, dass ein zentrales Register etabliert wird, in dem der Wille jeder Person pro oder contra Organspende hinterlegt wird.
Also nicht über die Krankenkassen?
Die Krankenkassen sind als Kostenträger denkbar ungeeignet, eine solche Frage zu stellen und diese Daten zu verwalten.
Wie läuft es in Italien?
In Italien etwa gehe ich zu einer Behörde, etwa um einen Ausweis zu beantragen und unten auf dem Formular steht drauf, ob ich positiv, negativ oder unentschieden eingestellt bin gegenüber der Organspende. Ich kann diese Entscheidung von zu Hause jederzeit ändern – in meiner Gesundheitsdatenbank.
Greift die Widerspruchlösung nicht auch in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen ein?
Wir haben eine Gesellschaft, in der wir den Nutzen im Kollektiv denken: Das Wohl der Allgemeinheit geht vor
Paolo Fornara
Emotional ja, rational nein. Diese Forderung gibt es seit langer Zeit, sie wird oft von Patientenvertretern vorgetragen. Die Gründe, warum man ein Organ nicht spendet, können vielfältig sein. Zum Beispiel Angst. Wenn Sie Angst haben, in einen Fahrstuhl zu steigen, dann haben Sie Angst. Wir haben eine Gesellschaft, in der wir den Nutzen im Kollektiv denken: Das Wohl der Allgemeinheit geht vor.
Kommen alle deutschen Transplantationszentren auf die benötigten Zahlen, um ihre Zulassung nicht zu verlieren?
Ja, die Mindestzahlen erreichen die Zentren, wobei sich das für jedes Organ unterschiedlich darstellt. Zentren haben manchmal unterschiedliche Transplantationsprogramme, das heißt, dass die Fallzahlen bei den unterschiedlichen Organen unterschiedlich sind. Am Ende dreht sich alles um die Expertise.
Was wünschen Sie sich beim Thema Organspende für die Zukunft? Wo gibt es abseits der „Widerspruchslösung“ aus Ihrer Sicht noch Verbesserungsbedarf?
Ich wünsche mir, dass eine ergebnisoffene und längst überfällige Diskussion geführt wird. Ich wünsche mir, dass die Patienten, die auf der Liste stehen, eine Chance bekommen.
Vielen Dank für das Gespräch.
23.11.2018