Intersexualität

Neue Leitlinie fordert Umdenken bei DSD

Urologen für Toleranz gegenüber Varianten der Geschlechtsdifferenzierung

Es kommt selten vor, stürzt betroffene Eltern aber in Ratlosigkeit: Bei der Geburt des Kindes ist nicht auf den ersten Blick klar, ob ein Junge oder ein Mädchen das Licht der Welt erblickt hat.

Photo: Neue Leitlinie fordert Umdenken bei DSD

Das Erscheinungsbild ist weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich, oder es deckt sich nicht mit dem untersuchten Chromosomensatz. Eine solche Störung der sexuellen Differenzierung, kurz DSD nach dem Englischen „disorder of sexual differentiation“, Urologen sprechen lieber von Varianten der sexuellen Entwicklung, betrifft hierzulande nach Zahlen des Deutschen Ethikrates eines von rund zehntausend Neugeborenen in gravierender Form. „Auf keinen Fall sollte unmittelbar nach der Geburt an operative Maßnahmen zur Angleichung in die eine oder andere Richtung gedacht werden, da die Entwicklung des Kindes oft ganz anders verläuft, als von Eltern und Ärzten angenommen. Massive Proteste von Betroffenen gegen eine einst übliche frühzeitige Geschlechtsfestlegung auf dem OP-Tisch haben zu diesem Umdenken beigetragen“, sagt Prof. Dr. Susanne Krege, Fachärztin für Urologie. Sie ist Mitkoordinatorin der neuen S2k Leitlinie zu Varianten der Geschlechtsentwicklung, an der die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) maßgeblich beteiligt ist.
Unter dem Begriff DSD sind verschiedene medizinische Diagnosen zusammengefasst, bei denen durch chromosomale, gonadale oder hormonelle Veränderungen die geschlechtliche Entwicklung verändert ist. Grundsätzlich werden zwei Gruppen unterschieden: 46,XX DSD (genetisch weiblich) und 46,XY DSD (genetisch männlich). Am häufigsten tritt das adrenogenitale Syndrom (AGS) auf, das bei chromosomal weiblichem Geschlecht durch einen erhöhten Androgenspiegel zur mehr oder weniger starken Vermännlichung des äußeren Genitales führt. „In leichteren Fällen ist nur die Klitoris etwas vergrößert, in schweren Fällen sieht sie jedoch aus wie ein ausgebildeter Penis und der vordere Anteil der Scheide ist nicht angelegt“, schildert Prof. Dr. Krege. Bei 46,XY DSD können verschiedene Ursachen dagegen eine unzureichende Androgenwirkung erzeugen, die die regelhafte Entwicklung eines genetisch vorgesehenen Penis verhindert. Die Ursachen und Ausprägungen von DSD seien vielfältig, so die DGU-Expertin.

Bis vor wenigen Jahren war es gängige Praxis, in Fällen von Intersexualität möglichst früh eine meist operative oder auch eine medikamentöse Angleichung zur einen oder anderen Seite vorzunehmen. Dabei entschieden behandelnde Ärzte und Eltern meist auf Grundlage diagnostizierter Ursachen für das nicht eindeutige Genitale des Kindes. Dies geschah unter Zeitdruck, weil binnen zwei Wochen nach der Geburt ein Geschlecht des Kindes im Stammbuch eingetragen werden musste, so Prof. Dr. Krege. „In der Medizin findet gegenwärtig ein Umdenken statt: Das Kind als betroffene Person steht im Mittelpunkt. Entscheidungen sollen nicht länger über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, mit denen sie später nicht leben können oder wollen. Ganz wichtig ist es, zunächst die Eltern zu beruhigen, sie zu beraten und den Kontakt zu anderen Betroffenen in der Selbsthilfe oder in Peer Groups herzustellen. Außer bei notwendigen Eingriffen, wie etwa der Substitution von Cortisol gegen lebensgefährlichen Salzverlust bei AGS, soll bis zur Einsichtsfähigkeit der Betroffenen gewartet werden. Kinder sollen früh, aber altersentsprechend an ihre Diagnose herangeführt werden, um dann kurz vor oder zu Beginn der Pubertät möglichst selbst entscheiden zu können“, sagt die Chefärztin der Urologie und Kinderurologie am Alexianer-Krankenhaus Maria Hilf GmbH in Krefeld. Auch auf Gesetzesebene hat sich dazu bereits etwas getan: Seit November 2013 können im Geburtenregister Kinder mit intersexuellem Genitale ohne Geschlechtsangabe eingetragen werden.

Auf medizinischer Ebene werden zum Ende des Jahres aktuelle Vorgaben in Form einer neuen Leitlinie zu Varianten der Geschlechtsentwicklung (http://www.awmf.org/leitlinien/) erwartet. In enger Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen von Betroffenen sollen darin Verbesserungen für die Behandlung und Versorgung von DSD-Patienten festgeschrieben werden. Ein Kernpunkt der Leitlinie wird, laut Prof. Dr. Krege, eine Zurückhaltung mit irreversiblen, operativen Maßnahmen kurz nach der Geburt sein, sofern das Kindeswohl dies nicht unabweisbar erfordere. Der bisher häufig herbeigezogene Leitgedanke, dass neben Erziehung und Sozialisation besonders auch eine eindeutige Anatomie für die Entwicklung der geschlechtlichen Identität entscheidend sei, vernachlässige wichtige Aspekte wie zum Beispiel hormonelle Einflüsse. „Zwar gibt es auch aus medizinischer Sicht bei DSD weiter gute Gründe für frühzeitige Eingriffe, aber mit Ausnahme der zwingend notwendigen sollen sie künftig den Bedürfnissen und der Selbstbestimmung Betroffener hintangestellt werden“, resümiert Leitlinien-Mitautorin Prof. Dr. Krege.

Grundsätzlich appellieren die Urologen zu mehr Toleranz gegenüber Menschen mit DSD. Ärzte müssten sich von einem binären Denken in rein männlich und rein weiblich lösen und sehen, dass es eine ganze Varianzbreite dazwischen gebe, bei der man sich nicht einfach über das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen hinwegsetzen könne. Aber auch die Gesellschaft habe ihren Beitrag zu leisten und dürfe Menschen mit Varianten der Geschlechtsdifferenzierung nicht länger als Hermaphroditen und Zwitter stigmatisieren und diskriminieren, sondern überdenken, ob nicht die einfache Abkehr von überkommenen Moralvorstellungen eine lohnende Alternative zu traumatisierenden Eingriffen in der Kindheit sein sollte.
 

15.05.2014

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