News • Dynamische Darstellung für bessere Diagnostik

Multiple Sklerose: Neuer Ansatz stellt Subtypen-Modell in Frage

Neues Modell beschreibt Multiple Sklerose als Krankheitskontinuum mit dynamischen Stadien statt als Subtypen

© SIMON LEE – unsplash.com

Die Multiple Sklerose (MS) galt bislang als eine Erkrankung mit verschiedenen Subtypen wie „schubförmig“ oder „progredient“. Eine in Nature Medicine veröffentlichte internationale Studie unter Leitung des Universitätsklinikums Freiburg und der University of Oxford stellt nach Analyse der NO.MS Kohorte (Studiendaten der Firma Novartis) dieses dogmatische Modell radikal in Frage. Statt fixer Krankheitsphänotypen identifiziert ein KI-gestütztes Modell vier zentrale Zustandsdimensionen, die den Verlauf der MS wesentlich besser abbilden: körperliche Behinderung, Hirnschädigung, klinische Schübe und stille Entzündungsaktivität. Die Erkenntnisse könnten die Diagnostik und Behandlung von MS-Patienten grundlegend verändern und auch für andere Erkrankungen von Bedeutung sein. 

„Unsere Daten zeigen eindeutig, dass MS nicht über verschiedene Subtypen wie schubförmig oder progrediente MS zu charakterisierten ist, sondern ein kontinuierlicher Krankheitsprozess mit definierbaren Zustandsübergängen ist“, sagt Prof. Dr. Heinz Wiendl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie des Universitätsklinikums Freiburg.

Zwölf farblich markierte Gradienten stellen unterschiedliche...
Die Darstellung von Krankheitszuständen und MS als Gradient zeigt die Komplexität der Erkrankung und soll als Grundlage für eine bessere Diagnostik und Behandlung dienen.

Bildquelle: Ganjgahi H, Häring DA, Aarden P et al., Nature Medicine 2025 (CC BY 4.0

Die Ergebnisse basieren auf der Analyse von über 8.000 Patienten und mehr als 35.000 MRT-Aufnahmen aus verschiedenen Studien (NO.MS Kohorte, Roche Ocrelizumab Kohorte, MS PATHS Kohorte). 

Das probabilistische Modell beschreibt MS als Abfolge von Zuständen („states“) mit spezifischen Übergangswahrscheinlichkeiten. Frühere, milde Zustände gehen meist über entzündliche Zwischenphasen in fortgeschrittene, irreversible Krankheitsstadien über. Bemerkenswert: Ein direkter Übergang in die schweren Stadien ohne vorherige Entzündungsaktivität ist praktisch ausgeschlossen – stille, symptomfreie Entzündungen oder Schübe sind zentrale Treiber der Verschlechterung. 

Das Prinzip ist grundlegend und wegweisend – und es lässt sich auch auf viele andere Krankheiten anwenden, sowohl in der Neurologie als auch darüber hinaus

Lutz Hein

Das bisherige Klassifikationssystem erschwert in vielen Fällen den Zugang zu wirksamen Medikamenten, da Zulassungen auf starren Subtypdefinitionen basieren. Das neue Modell erlaubt eine individualisierte Risikoeinschätzung – unabhängig vom diagnostizierten Subtyp. „Statt Patienten zu kategorisieren, sollten wir ihren Zustand quantifizieren und dynamisch verfolgen“, so Wiendl. Gerade Patienten mit aktiver, aber klinisch stummer Entzündungsaktivität benötigen frühzeitige Therapieentscheidungen, wie das Modell eindrücklich zeigt. 

Die zustandsbasierte Modellierung mit Methoden der künstlichen Intelligenz ist nicht nur ein wissenschaftlicher Durchbruch in der MS-Forschung. „Das Prinzip ist grundlegend und wegweisend – und es lässt sich auch auf viele andere Krankheiten anwenden, sowohl in der Neurologie als auch darüber hinaus“, sagt Prof. Dr. Lutz Hein, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg. Entscheidend ist, dass man sich von starren, festgelegten Krankheitskategorien löst und stattdessen auf datenbasierte, flexible Krankheitszustände innerhalb der Erkrankung setzt. 

„Wichtig ist es nun, diese Möglichkeiten der individualisierten Risikoabschätzung in die klinische Praxis zu überführen und hierzu prospektive Daten zu sammeln“, betont Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Das Modell wurde bereits innerhalb der Studie erfolgreich an externen klinischen und realweltlichen Datensätzen überprüft. Der nächste Schritt ist nun die Überführung in den klinischen Alltag, etwa zur Therapieentscheidung oder zur besseren Patientenaufklärung. Perspektivisch könnte die dynamische Klassifikation auch die Zulassungslogik künftiger Therapien grundlegend verändern. 


Quelle: Universitätsklinikum Freiburg

21.08.2025

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