„Krankheit ist nicht vornehm“
Wie Thomas Mann im „Zauberberg“ die Tuberkulose entromantisierte
Als Thomas Mann im Frühjahr 1912 nach Davos reist, um seine Frau Katia im Lungensanatorium zu besuchen, zieht er sich selbst einen schweren Katarrh zu. Der Klinikdirektor rät ihm, sich doch gleich zu den anderen Kranken zu legen. Doch der Schriftsteller verzichtet darauf, für die nächsten Monate in Wolldecken eingemummt auf einem Liegestuhl zu verbringen. Er fährt nach Hause und verfasst lieber einen Roman von Weltruhm über diese „Krankenwelt dort oben“, wie er sie später Studenten an der Princeton University beschreibt. Eine Welt, die gerade „den jungen Menschen in relativ kurzer Zeit dem wirklichen, aktiven Leben vollkommen entfremdet“.
Solch eine Realitätsentfremdung ereilt seinen Protagonisten Hans Castorp im 1924 veröffentlichten und ironisch gefärbten Roman „Der Zauberberg“. Der junge Mann kommt als Besucher in die Tuberkulose-Luxusabsteige „Berghof“ und verbummelt dort als Kranker geschlagene sieben Jahre seines Lebens. Erst infiziert er sich mit der Liebe zur kirgisenäugigen Clawdia Chauchat, dann mit einem Krankheitskeim. Wobei es auch ein und dasselbe sein könnte, denn bevor Robert Koch im Jahr 1882 die Tuberkulose ein für alle Mal als schnöde bakterielle Infektionskrankheit entzauberte, war sie in der Kunst als romantische und individualisierende Krankheit mit großer Hingabe mystifiziert worden. Werke wie Alexandre Dumas’ „Die Kameliendame“ (1848) machten die Schwindsucht schick. So kann Castorp es anfangs kaum fassen, dass nicht alle Patienten im Sanatorium so sinnlich-schön leiden wie seine Madame Chauchat. „Krankheit ist doch gewissermaßen etwas Ehrwürdiges“, meint er zu seinem Mentor Settembrini. Der widerspricht: „Krankheit ist durchaus nicht vornehm, durchaus nicht ehrwürdig – diese Auffassung ist selbst Krankheit oder sie führt dazu.“
In der Tat war die Mehrheit der Bevölkerung vor 100 Jahren mit dem Mycobacterium tuberculosis infiziert. So gut wie jeder trug also den Keim in sich, ohne tatsächlich erkrankt zu sein. Ob sein Romanheld nun wirklich an Tuberkulose leidet oder nicht, lässt Thomas Mann bewusst offen. Dadurch werden der Krankheit in seinem Werk zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen zuteil: eine medizinische und eine metaphorische. „Im ‚Zauberberg‘ geht es darum, wie man als Mensch lernt, mit den Widersprüchen der Moderne umzugehen. Der Text lebt von Dualismen, vor allem dem Gegensatz von Leben und Tod“, erklärt Dr. Katrin Max aus Würzburg. Die Literaturwissenschaftlerin hat sich in ihrem Sachbuch „Liegekur und Bakterienrausch“ (2013) mit der literarischen Deutung der Tuberkulose im „Zauberberg“ intensiv beschäftigt.
Sie weist darauf hin, dass nicht nur die Tuberkulose, sondern auch das damals neuartige Röntgen eine denkwürdige Rolle im Roman einnimmt: „Die Durchleuchtung wird nicht bloß als ein modernes wissenschaftliches Verfahren beschrieben, sondern gleichzeitig auch als etwas, das die Naturgesetze scheinbar außer Kraft treten lässt. Man sieht etwas, das man eigentlich nicht sehen kann: einen Lebenden als Leiche.“ So wie die Kranken ihre Lungenbilder auf Glasplatten vor sich hertragend über die Sanatoriumsflure schlurfen, fühlt man sich an Odysseus’ Hadesfahrt erinnert, wo die Toten als Schatten ihrer Selbst umherwandeln. Als Erzählung über den Tod wollte Thomas Mann selbst seinen „Zauberberg“ freilich nie verstanden wissen. Vielmehr beschrieb er ihn als Ruf zum Leben, aber bitte im Sinne des Fortschritts und der Vernunft und nicht einer romantischen Überspanntheit gehorchend, wo der, der am vornehmsten fühlt, auch am meisten leidet.
30.05.2014