EMRAM
Elektronische Patientenakte: Was bringt Deutschland wirklich voran?
Viele Länder in Europa verfolgen seit Jahren eHealth-Strategien, um den Ausbau von Telematik-Infrastrukturen voranzutreiben. Gefragt sind informationstechnische Lösungen für die einrichtungsübergreifende Dokumentation, Kommunikation und Kooperation. Hierdurch hat die elektronische Patientenakte (ePA) einen enormen Entwicklungsschub erfahren. Sie gilt als eine der Schlüsselanwendungen eines vernetzten Gesundheitswesens.
Report: Melanie Günther
Einen Überblick über die Implementierung von IT-Systemen und -Lösungen bietet das Electronic Medical Record Adoption Model (EMRAM) der HIMSS Analytics Group, das 2005 in den USA und 2010 in Deutschland eingeführt wurde. EMRAM ist ein Werkzeug, das Einrichtungen wie Krankenhäuser und Kliniken weltweit im Hinblick auf die IT-Implementierung bewertet. HIMSS Analytics bespricht die Kriterien mit CIOs und anderen IT-Experten aus Krankenhäusern weltweit. Dies trägt dazu bei, die Akzeptanz und Relevanz der geltenden Regeln zu maximieren.
Aber auf welchem Stand befinden wir uns aktuell? Wie viele Einrichtungen nutzen die ePA effektiv? Und warum hinkt Deutschland im Vergleich zu den USA so hinterher? Fragen, die wir an Jörg Studzinski, Senior Consultant HIMSS Analytics Europe, und John Hoyt, Executive Vice President Emeritus HIMSS Analytics, gerichtet haben.
Deutschland mit schlechter Stellung
„Im Jahr 2015 lag der Mittelwert der durch EMRAM akkreditierten Krankenhäuser in Deutschland bei 1,8 Prozent. Seit Einführung des Modells in Europa im Jahr 2010 haben wir über 400 deutsche Krankenhäuser evaluiert, das entspricht jedem vierten Akutkrankenhaus mit stationärer Betreuung. Zum Vergleich: Dänemark liegt bei 5,3, die USA bei 4,7 (5.467 Krankenhäuser) und selbst die Türkei bei 2,7 Prozent“, weiß Jörg Studzinski.
Die Gründe für eine mangelnde oder unvollständige Implementierung sind vielfältig: Die USA verabschiedete 2009 mit dem Meaningful Use Programm ein Anreizprogramm für Krankenhäuser, um in ePAs zu investieren. Angeblich seien im Rahmen des Programms nahezu 30 Milliarden Dollar in Projekte geflossen. „Innerhalb von nur sechs Jahren konnten wir in Amerika einen Zuwachs von 740 Prozent für die Stage 7-Akkreditierung verzeichnen“, erläutert John Hoyt. „Insgesamt haben bereits 67 Prozent der in den USA akkreditierten Krankenhäuser eine Stage 5, 6 oder 7 Akkreditierung.“
Zum Vergleich: 2015 betrug der Anteil der Krankenhäuser, die in Deutschland in Stage 0 eingestuft wurden, 51,8 Prozent. Das bedeutet, dass Informationssysteme (LIS, RIS, PHIS) für Abteilungen wie Labor, Radiologie oder der Krankenhausapotheke nicht installiert wurden beziehungsweise Daten von externen Dienstanbietern nicht elektronisch verarbeitet werden können. Das deutsche eHealth-Gesetz sieht lediglich einen Stimulus im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich pro Jahr vor. Kein Vergleich!
Fehlende Anreizsysteme und fragmentierte Entscheidungsstrukturen
„Deutschland liegt 35 Jahre hinter den Early Adopters und dementsprechend auch hinter den Midpoint Adopters. Deutschen Krankenhäusern, aber auch dem deutschen Gesundheitswesen fehlt der „corporate“ oder „national will“. Sie sind viel zu sehr an autokratische Organisationsstrukturen gebunden. Das hindert sie daran, den Blick nach außen zu richten“, ergänzt Hoyt.
In vielen Krankenhäusern in diesem Land wird die IT noch immer als Kostenfaktor anstatt als Innovations- und Effizienztreiber betrachtet. Dadurch gerät die Einführung elektronischer Patientenakten häufig ins Stocken. Darüber hinaus spielt aber auch der Datenschutz oder die Krankenhausapotheke eine wichtige Rolle bei der verzögerten ePA-Implementierung. „In punkto Medikationssicherheit nutzen viele deutsche Krankenhäuser verfügbare Technologien nicht optimal, um Fehler zu minimieren. Hier könnte mehr getan werden, teilweise sicherlich auch durch entsprechende staatliche Anreize“, gibt Studzinski zu bedenken.
Kein Stage 6-Krankenhaus
Insgesamt wird EMRAM von mehr als 9000 Krankenhäusern weltweit angewendet. Dabei gelten auf internationaler Ebene die gleichen Anforderungen und Voraussetzungen. „In Deutschland gibt es mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) lediglich ein EMRAM Stage 7-Krankenhaus. Das UKE hat sich mit der Eröffnung des Neubaus im Jahr 2009 stark an Krankenhäusern orientiert, die in punkto IT-Nutzung international führend waren. Insofern wurden bestimmte Investitions- und Implementierungsentscheidungen anders priorisiert und vorangetrieben“, sagt Studzinski. Stage 6 hat in Deutschland bisher noch kein Krankenhaus erreicht.
Verwaltungsstrukturen in Deutschland sind kleinteilig. In der Regel entscheiden die meisten öffentlichen Krankenhäuser selbstständig über ihre IT-Budgets und -Strategien. „Dänemark, die Niederlande und Spanien nehmen im internationalen Vergleich eine führende Position ein. Entscheidungen werden hier auf regionaler Ebene gefällt. Das bedeutet wiederum, dass der Datenfluss zwischen verschiedenen Organisationen gefördert und unnötige Investitionen verhindert werden“, ergänzt Hoyt.
Viel Luft nach oben
Studzinski erläutert weiter: „Wir hoffen, dass das neue eHealth-Gesetz dazu beiträgt, Deutschland in diesem Bereich voran zu bringen. Ob die aktuellen Maßnahmen und Anreize dazu ausreichen, muss sich zeigen.“ Klar ist, dass an vielen Stellen bereits ein eHealth-Gesetz 2.0 gefordert wird. Hoyts Botschaft lautet daher: „Es braucht eine staatliche Führung, um die Adaptierung voranzutreiben.“
Studzinski räumt aber auch ein, dass trotz aller Schwierigkeiten das Interesse in Deutschland vergleichsweise hoch sei, allerdings nicht im Hinblick auf Benchmarkingprozesse, so wie es in den USA oder der Türkei der Fall ist: „Dort wird EMRAM eher strategisch verwendet, um den Status quo zu bestimmen, Investitionsentscheidungen zu rechtfertigen, Lücken in der ePA-Reife aufzudecken.“ EMRAM kommt in Deutschland mehr als Leitlinie zum Einsatz. Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) gilt hier als Vorreiter, denn das EMRAM-Modell floss bereits in den strategischen Planungsprozess ein. Bis 2019 plant die Klinikleitung, den höchsten Reifegrad der IT-Infrastruktur zu erreichen.
29.04.2016