Die App gegen Rückenschmerzen
Skoliose ist das Fachwort für eine Wirbelsäulenverkrümmung, die in Deutschland immerhin die häufigste orthopädische Behandlungsindikation bei Kindern und Jugendlichen darstellt. Vielen Kindern und Jugendlichen wird zur Therapie das Tragen eines rigiden Korsetts verordnet. Es soll der Verkrümmung und Verdrehung der Wirbelsäule mechanisch entgegen wirken. Die Heilungschancen sind gut – allerdings nur, wenn die Patienten dieses Korsett während der Wachstumsphase täglich bis zu 23 Stunden lang tragen.
„Eine solche Einschränkung mitten in der Pubertät wird von den wenigsten Kindern und Jugendlichen gut angenommen“, weiß Dr. Susanne Dannehl, psychologische Psychotherapeutin und Mitarbeiterin am TU-Fachgebiet für Medizintechnik. Doch nicht nur das: Auch unter Ärzten und den Kostenträgern wird zum Beispiel diskutiert, welche Korsettform am effektivsten ist oder ob das Korsett nun 23 oder vielleicht auch nur 20 Stunden am Tag getragen werden muss. „Das Problem bei Orthesen ist, dass es keine vernünftigen Vergleichsdaten gibt“, sagt Prof. Dr. Marc Kraft, Leiter des Fachgebietes Medizintechnik. „Der Arzt sieht die Kinder in der Regel alle sechs Monate, und auch Eltern wollen und können nicht permanent die Tragedauer überwachen. Eine objektive Erfassung therapierelevanter Daten wie Tragedauer, Ausmaß der ausgeführten Bewegungen, wo treten Druckstellen auf und so weiter – ist so unmöglich. Genau in diese Betreuungslücke wollen wir einsteigen: Mit einem digitalen ‚Coach‘, der einerseits das Trageverhalten der Kinder und Jugendlichen registriert, andererseits aber auch die Patientinnen und Patienten motiviert, Anregungen und Hilfestellung gibt.“
Digital Health oder auch e-Health gilt als die Zukunft der Medizin. Moderne Ansätze konzentrieren sich nicht mehr nur auf das Versenden von digitalisierten medizinischen Daten, sondern rücken den Patienten und sein Verhalten in den Mittelpunkt. Kommunikationsmittel wie Smartphones oder Tablets ermöglichen erstmals die präzise, objektive Datenerfassung am und die direkte Kommunikation mit dem Patienten selbst. Das regionale Innovationscluster BeMobil, ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 19 Millionen Euro gefördertes Projekt, hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Potenziale auszuloten. Auf unterschiedlichste Art und Weise werden „digitale Physiotherapeuten“ entwickelt, die älteren oder erkrankten Menschen mehr Eigenständigkeit und mehr Verantwortung für die eigene Therapie ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um die Erfassung von Daten, sondern auch um die Entwicklung von passgenauen Motivationskonzepten und Verhaltensanleitungen. Forschungsgruppen der TU Berlin sind in nahezu allen Bereichen von BeMobil vertreten. So leitet Prof. Dr. Marc Kraft gleich zwei Projekte in dem Cluster, die sich mit der mobilen Interaktion in der Therapeuten-Patienten-Beziehung befassen.
Für den digitalen „Coach“ werden in die Korsetts verschiedene Sensoren, die therapierelevante Aktivitätsdaten wie Bewegung, Körperhaltung, Atmung und Druckverhältnisse erfassen, integriert. „Unser Ziel ist es, diese Messsysteme so klein und leistungsstark zu konstruieren, dass sie ohne zusätzlichen Aufwand in ein Korsett integriert werden können. Eine intelligente Funktechnik übermittelt die Daten kabellos an eine speziell entwickelte App auf das Smartphone der Patienten“, erklärt Susanne Dannehl. Die App wird gemeinsam mit an Skoliose erkrankten Kindern und Jugendlichen entworfen und soll motivierend, beratend und vernetzend wirken. „Das kann eine Erinnerung sein, ein Belohnungssystem, ein Tipp, wie durch bestimmte Körperhaltungen die Atmung erleichtert wird, eine Anregung für Sportübungen mit Korsett oder auch die Möglichkeit, Druckstellen präzise zu erfassen“, so Dannehl. „Wir haben bereits mehrere Workshops mit betroffenen Jugendlichen veranstaltet. Eine erste App-Version ist fertig und wird zurzeit von den Patienten geprüft und verbessert.“
„Die so gewonnenen Patientendaten sind ein sensibles Gut“, weiß Marc Kraft, „deshalb arbeiten wir in allen Projekten mit Datenschutz-Experten zusammen. Grundsätzlich wird die App so konstruiert, dass die Daten nur dem Patienten zugänglich sind.“
Quell: TU Berlin
07.03.2016