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Artikel • Infektionsprävention
CLAR: Klinikkeime automatisch im Blick
Mit Mathematik gegen Mikroben: Das an der Charité entwickelte Cluster-Alarm-System (CLAR) erfasst automatisiert Häufungen von Erregern nosokomialer Infektionen und soll so abteilungsübergreifende Ausbrüche verhindern.
Bericht: Wolfgang Behrends
Dr. Michael Behnke, medizinischer IT-Leiter am Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Charité, erklärt, wie das System funktioniert und wie die Algorithmen auch Infektionsherde erkennen, die sonst unter dem Radar verschwinden.
Sämtliche Häufungen von Erregern über alle Abteilungen einer Klinik hinweg erfassen – eine Mammutaufgabe, die in der täglichen Routine an dünnen Personaldecken und Erregerbefunden, die häufig noch per Fax versendet werden, zum Scheitern verurteilt ist. Das CLAR-System ist seit 2018 an der Charité aktiv und setzt auf Automation und Algorithmen, um dieses Ziel dennoch zu erreichen.
Für jeden Erreger wird ein sogenannter Baseline-Wert festgelegt; eine Zahl, die aus dem endemischen Niveau des Erregervorkommens der letzten 15 Monate errechnet wird. Wird die Baseline überschritten, gibt das System automatisch Alarm in Form einer E-Mail. Die Nachricht enthält in standardisierter Form Informationen darüber, welcher Erregertyp vorliegt, welche Stationen und Patienten betroffen sind, auf welchem Weg der Erreger erfasst wurde (zum Beispiel per Blutkultur) und wann der Grenzwert überschritten wurde. Auch Übereinstimmungen mit etwaigen früheren Alarmierungen sind enthalten.
Lehren aus früheren Ausbrüchen gezogen
„Ein Problem der traditionellen Cluster-Suche ist die Konzentration auf Risikobereiche wie die Intensivstation“, sagt Behnke. „Zudem liegt der Fokus meist auf resistenten Keimen wie MRSA.“ Sensible Erreger, von denen ebenfalls eine Gefahr für die Patienten ausgeht, würden dabei oft nicht berücksichtigt. Der Experte sieht die Automation der Alarme als eine besondere Stärke des Systems: „Sie vereinfacht die Arbeitsabläufe, da Kliniker nicht mehr die relevanten Informationen aus mehreren Systemen zusammentragen müssen, um einen Überblick zu erhalten. Zudem hilft der strukturierte Aufbau, in der Hektik einer Ausbruchssituation keine wichtigen Schritte zu vergessen.“
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Auch Patientenverlegungen werden in die Erfassung einbezogen, die Entwickler haben damit eine Lehre aus früheren Ausbrüchen innerhalb der Klinik gezogen. So hatte 2012 ein Serratien-Ausbruch in der Neonatologie der Charité für Aufsehen gesorgt – auch, weil seinerzeit nicht geklärt werden konnte, wie die Keime wiederholt auf unterschiedlichen Stationen auftreten konnten. Das elektronische CLAR-System zur Früherkennung sei entwickelt worden, um solche Vorfälle künftig zu verhindern.
Wann ein Cluster vorliegt, also die Schwelle für eine Alarmierung überschritten ist, wird je nach Erreger festgelegt. „Aus mathematischer Sicht wäre ein Alarm ab einer Fallzahl >1 möglich“, sagt Behnke. „Das wäre jedoch nicht praktikabel, da relevante Ausbrüche in einer Masse an relativ ungefährlichen Infektionen untergehen würden. Daher arbeitet CLAR mit mehreren etablierten statistischen Suchmethoden wie dem Farrington-Algorithmus, um die identifizierten Erregerhäufungen zu gewichten.“ Als Grundlage für die Berechnungen dienen zudem Erfahrungen der Hygienefachärzte, so dass jeder Erreger gemäß seiner klinischen Relevanz berücksichtigt wird.
Standards und Strukturen schaffen
Die Entscheidung, ob ein Alarm versendet werden soll, fällt in Echtzeit und basiert im Wesentlichen auf drei Quellen: Patientenstammdaten aus dem Krankenhausinformationssystem (KIS), Informationen zu Patientenbewegungen zwischen den Zimmern oder Stationen sowie den mikrobiologischen und virologischen Laborbefunden der Patienten.
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„Wichtig ist dabei die Maschinenlesbarkeit der Befunde“, betont Behnke. Idealerweise sollte das LIS in der Lage sein, strukturierte Befunde nach internationalen Standards wie HL7, SNOMED oder LOINC zu erstellen – eine Voraussetzung, die nicht in jedem Labor gegeben ist. Der Experte sieht das System daher auch als potentiellen Anreiz für diese Abteilungen, den überfälligen Schritt auf zeitgemäße Technik zu vollziehen. „Die Standardisierung ist nicht nur wichtig, damit alle Systeme die gleiche Sprache sprechen, sondern auch, um bei Bedarf schnell auf neue Erreger reagieren zu können.“ Ein naheliegendes Beispiel ist das Coronavirus SARS-CoV-2. Die vereinheitlichte Nomenklatur erleichtert aber auch den Umgang mit Tropenkrankheiten, die in der bisherigen Routine keine Rolle spielten, im Zuge der globalen Erwärmung aber zunehmend den Weg in deutsche Kliniken finden.
Sofern die Labor-IT entsprechend ausgestattet ist, lässt sich das CLAR-System grundsätzlich in jeder Klinik installieren. Das kleinste bisher teilnehmende Haus hat 400 Betten, das größte Kliniknetzwerk 8000, berichtet Behnke. „CLAR ist ein wichtiger Bestandteil unseres Hygiene-Portals, das wir zur Digitalisierung der Infektionsprävention aufgebaut haben.“ Das Portal bietet eine Plattform für die Routinearbeit der Hygienefachkräfte, etwa durch das Nachhalten früherer Infektionen mit resistenten Erregern.
Verbesserung durch Benutzer-Feedback
Ärzte können die vom CLAR-System versendeten Warnungen bewerten – dieses Feedback dient dazu, den Blick der Algorithmen zu schärfen. „Aus den Rückmeldungen hoffen wir, Muster für klinische Relevanz herauszuarbeiten und die Alarme besser darauf abzustimmen“, erklärt Behnke. Weil für das Machine-Learning-basierte Verfahren große Datenmengen nötig sind, um zuverlässige Ergebnisse zu generieren, wird derzeit noch das Feedback gesammelt, bis genügend Daten zur praktischen Implementierung vorhanden sind.
Die gesammelten Informationen können auch zur Erstellung detaillierter Erregerstatistiken dienen, mit denen etwa Risikobereiche identifiziert und Resistenzentwicklungen verfolgt werden können. Dazu soll auch die Verlegungshäufigkeit zwischen verschiedenen Stationen einbezogen werden, um Ausbruchsverläufe besser nachzuvollziehen.
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Behnke hofft, dass sich das System auch an anderen Kliniken etabliert. Dadurch ließen sich nicht nur Ausbrüche standardisiert dokumentieren – was bislang nicht der Fall ist – sondern auch Abläufe mehrerer Krankenhäuser miteinander vergleichen und bei Bedarf optimieren. „Im Idealfall schafft das System die Grundlage für eine automatisierte Clustererkennung und Erfassung nosokomialer Infektionen auf nationaler Ebene“, wagt der Experte einen langfristigen Ausblick. Geplant ist im nächsten Schritt, das System auf die automatische Erfassung nosokomialer Blutstrominfektionen auszuweiten sowie eine semi-automatische Überwachung von postoperativen Wundinfektionen zu etablieren.
08.02.2022