Zellschichten in Retina-Organoiden.
Querschnitt durch einen Teil eines Retina-Organoids: Am Tag 143 ihrer Differenzierung enthält die innere Körnerschicht (unten) die Zellkörper funktionell unterschiedlicher Zellen: die der Amakrin- und Horizontalzellen (weiß) und der Müller-Gliazellen (rot). Die äußere Körnerschicht (oben) enthält die Zellkörper der Photorezeptoren (Lichtsinneszellen; grün). Die Skizze rechts zeigt in derselben Orientierung wie im Organoid die Zelltypen und Struktur der Netzhaut von Wirbeltieren: Das Licht fällt hier von unten ein und durchquert die gesamte Retina bis es auf die Photorezeptoren (oberste Zellschicht in Grau) trifft. In der inneren Körnerschicht finden sich Amakrin- und Horizontalzellen (weiß) sowie Bipolarzellen (grün). Müller-Gliazellen (rot) durchspannen die gesamte Retina. Die Axone der retinalen Ganglienzellen (grau) bilden den Sehnerv und übertragen das Lichtsignal ins Gehirn.

Quelle: MPI für molekulare Biomedizin / Yotam Menuchin-Lasowski        

News • Sehstörungen

SARS-CoV-2 geht ins Auge

SARS-CoV-2 verursacht nicht nur Infektionen der Atemwege. Es kann auch in die Netzhaut gelangen und Schäden anrichten. Unklar ist, welche Netzhautstrukturen infiziert werden und ob die Schäden direkt oder indirekt Folge einer Infektion sind. Ein Team um Thomas Rauen und Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin und dem Virologen Stephan Ludwig der Westfälischen Wilhelms-Universität hat nun menschliche Netzhaut-Organoide verwendet, um die SARS-CoV-2 Infektion der Netzhaut zu untersuchen. Demnach werden vor allem retinale Ganglienzellen, aber auch Lichtsinneszellen infiziert. Zudem zeigen die Forscher, dass sich Coronaviren in diesen Zelltypen sogar vermehren können.

Dass das von Yotam Menuchin-Lasowski am münsterschen Max-Planck-Institut etablierte menschliche Organoidmodell der Netzhaut in der Erforschung von SARS-CoV-2 Anwendung finden würde, hätte der Wissenschaftler vor gut drei Jahren nicht gedacht. Damals begann der Wissenschaftler mit der Arbeit an dem Modellsystem, das auf menschlichen reprogrammierten Stammzellen basiert, als Teil des von der Max-Planck-Gesellschaft geförderten White Paper Projektes “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing”.

Als immer mehr Fälle von neurologischen Beeinträchtigungen und auch Sehstörungen während oder nach einer Corona-Infektion durch die Medien gingen, schien es den Max-Planck-Forschern nur logisch, Netzhautorganoide für Untersuchungen zu SARS-CoV-2 in der Netzhaut einzusetzen. Denn verschiedene Studien an Retina-Biopsien von mehreren Patienten, die an COVID-19 gestorben waren, konnten das Virus in der Netzhaut nachweisen.

Tatsächlich erweist sich nun das Retina-Organoid-Modell als relevante Alternative zu Tierversuchen, da sich SARS-CoV-2-Infektionen beim Menschen nicht oder nur unzulänglich im Tiermodell nachbilden lassen. „Unser Retina-Organoidsystem bildet die anatomisch komplexe Struktur der menschlichen Netzhaut erstaunlich gut nach“, sagt Yotam Menuchin-Lasowski.

Als Ausgangszelltyp für die Netzhautorganoide wurden menschliche iPS-Zellen verwendet. Das sind Zellen, die aus Biopsien gewonnen und zu künstlich induzierten Stammzellen umprogrammiert wurden. „In vier bis fünf Monaten entstehen aus den iPS-Zellen unter geeigneten Kulturbedingungen ausgereifte Retina-Organoide, in denen sich die verschiedenen Zelltypen in Netzhaut-typischer Weise anordnen“, sagt Menuchin-Lasowski.

SARS-CoV-2 infiziert Netzhautzellen.
Immunfluoreszenzaufnahmen von SARS-CoV-2 Nukleoprotein (N)-positiven Zellen (grün) zeigt SARS-CoV-2-infizierte Zellen in retinalen Organoiden. Die SARS-CoV-2 infizierten Zellen in der rechten Abbildung weisen die typische Morphologie von Photorezeptoren auf.

Quelle: MPI für molekulare Biomedizin / Yotam Menuchin-Lasowski        

Die ausgereiften Netzhautorganoide wurden von André Schreiber und Stephan Ludwig vom Institut für Molekulare Virologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in einem Sicherheitslabor der Schutzstufe 3 mit SARS-CoV-2 Viren inkubiert und anschließend nach festgelegten Inkubationszeiten analysiert. So gelang den Forschern mittels quantitativer PCR-Analyse der Nachweis von SARS-CoV-2 mRNA in den Organoiden, was darauf hindeutet, dass Zellen in den Organoiden tatsächlich vom Virus infiziert wurden.

Um darüber hinaus die aktiven Viruskonzentrationen zu messen, die von den infizierten Organoiden nach verschiedenen Inkubationszeiten produziert wurden, verwendeten die Wissenschaftler einen sogenannten viralen Plaque-Assay. Und tatsächlich: dieser Test zeigte, dass sich in den Retina-Organoiden neue Virusnachkommen gebildet hatten.

„Dies ist der erste Nachweis, dass sich SARS-CoV-2 in menschlichen Netzhautzellen repliziert“, sagt Thomas Rauen, der mit Hans Schöler die White Paper Projektgruppe “Brain Organoids: Alternatives to Animal Testing” leitet. „Unser von der MPG gefördertes Projekt hat jetzt Früchte getragen“, freut sich Thomas Rauen.

Um zu erfahren, welche Zellen in den Retina-Organoiden betroffen sind, analysierten die Forscher die Organoide im Fluoreszenzmikroskop. Mithilfe verschiedener Immunmarker für die unterschiedlichen Zelltypen der Netzhaut und mit einem fluoreszierenden Antikörper gegen das Nucleoprotein (N-Protein) von SARS-CoV-2 zeigte sich, dass hauptsächlich zwei Zellschichten der Retina-Organoide infiziert wurden.

„Zum einen befanden sich viele der N-Protein-angefärbten Zellen in der äußeren Körnerschicht der Organoide,“ sagt Yotam Menuchin-Lasowski. Das ist die Zellschicht, in der sich die Photorezeptoren befinden – also die Zapfen und Stäbchen, die das eintreffende Licht in Nervenimpulse umwandeln. „Einige dieser Zellen mit dem N-Protein wiesen tatsächlich das typische Aussehen der Lichtsinneszellen auf“, ergänzt er.

„Der Zelltyp, in dem wir jedoch am häufigsten das N-Protein von SARS-CoV-2 nachweisen konnten, sind retinale Ganglienzellen“, sagt Menuchin-Lasowski. Diese Zellen befinden sich in der innersten Schicht der Retina und geben alle Signale von der Netzhaut über den Sehnerv ins Gehirn weiter.

Interessanterweise hängen viele der mit COVID-19 assoziierten Netzhautsymptome mit retinalen Ganglienzellen zusammen, die bisher allerdings vorwiegend mit sekundären Auswirkungen anderer SARS-CoV-2-verursachter Krankheitssymptome in Verbindung gebracht wurden, wie z. B. Schäden an den Blutgefäßen oder einer Erhöhung des Augendrucks.

„Unsere aktuelle Retina-Organoid Studie zeigt jedoch, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 direkte pathologische Folgen für die retinalen Ganglienzellen haben kann, auch wenn Sehbehinderungen bei Patienten mit COVID-19 nicht häufig vorkommen“, sagt Thomas Rauen. „Doch unsere Daten geben uns Grund zur Annahme, dass sogenannte Long-COVID-Symptome degenerative Erkrankungen der Netzhaut einschließen können.“

Hans Schöler, der als Emeritus die MPG White Paper Forschungsgruppe zusammen mit Thomas Rauen leitet, sagt: „Hier zeigt sich das volle Potential der Organoidforschung: Retina-Organoide eignen sich besonders gut für die Untersuchung von Netzhautpathologien. Durch die fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Abteilung von Stephan Ludwig konnten wir Einblicke in die Netzhautbeteiligung bei COVID-19 und möglicherweise auch bei Long-COVID gewinnen.“

Quelle: Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin

26.03.2022

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