Daten-Tsunami
„Nicht die Menge der Daten ist das Problem, sondern ihre Macht“
Über viele Jahrzehnte sind IT-Systeme in der Medizin aufgebaut worden. Hersteller haben ihre Systeme verbessert, integriert und mittlerweile auch für die Forschung optimiert und liefern Medizinern und Forschern damit wichtige Informationen. Allerdings müssen Kliniker und Forscher aus einem Berg an Daten die richtigen auswählen oder intelligente Algorithmen nutzen, die diese Daten kondensieren und interpretieren, um ihnen eine Bedeutung zuzuführen. Im Interview erläutert Univ.-Prof. Dr. Thomas Tolxdorff, Direktor am Institut für Medizinische Informatik der Charité Berlin, weshalb der „Daten-Tsunami“ nicht durch seine Masse, sondern erst durch die Macht der Daten zum Problem wird.
Interview: Melanie Günther
Herr Prof. Tolxdorff, welche Herausforderungen stellen sich aktuell im Bereich der klinischen IT und der Forschung?
Thomas Tolxdorff: Die größte Herausforderung besteht darin, einen Überblick über den Daten-Tsunami zu erlangen, der sich durch die verbesserte Integration von IT-Lösungen über Jahrzehnte hinweg gebildet hat. Durch eine Kondensierung und Interpretation der Daten muss eine Bedeutungszuordnung erfolgen, um überhaupt eine Übersicht gewinnen zu können.
Die Herausforderungen und ihre Lösung durch Big Data liegen dicht beieinander. Die wörtliche Übersetzung suggeriert zwar, dass wir es hier mit „vielen“ Daten zu tun haben, aber nicht die Menge der Daten ist das Problem, sondern ihre Macht. Es stecken deutlich mehr Informationen in Daten, als wir gemeinhin annehmen.
Es gibt drei Hierarchiestufen in der Datenverarbeitung: Erstens die Daten selbst. Diese werden veredelt zu Informationen und Informationen wiederum zu Wissen. Je intelligenter die Methoden und Computerverfahren werden, desto mächtiger werden die Rückschlüsse, die aus den Daten gezogen werden.
Inwieweit erleichtert IT den Arbeitsablauf in der Forschung?
Tolxdorff: Forschungsdaten sind zu etwa einem Drittel in strukturierter und zu einem weiteren Drittel in unstrukturierter Form vorhanden. Das letzte Drittel besteht aus Informationen, auf die nicht zugegriffen werden kann, wie beispielsweise Notizzettel, die am Bildschirm kleben.
Strukturierte Daten werden in Informationssystemen gespeichert. Klassischerweise sind das Patientenname, Adresse sowie Diagnosen, die in klinischen Studien Verwendung finden. Diese Daten können sehr gut gehandhabt werden.
Von Bedeutung sind aber auch unstrukturierte Daten. Das sind Freitexte wie Arztbriefe oder Befundtexte, aber auch Messgrafiken, Bilder und Filme. Diese Art Information kann die IT in immer größerem Maße integrieren, was den Arbeitsalltag in der Forschung erheblich erleichtert.
Welche Technologien gibt es da bereits und was braucht es vielleicht noch?
Tolxdorff: Starke Hardware und viel Speicherplatz stehen hier nicht im Fokus. Vielmehr müssen intelligente Verfahren konzipiert werden, die Informationen der unterschiedlichsten Art zu einem komplexen Datenmodell verarbeiten.
Wie steht es da denn mit dem Thema Sicherheit?
Tolxdorff: Die Sicherheit ist ein wunder Punkt. So läutete „Science“ in einer Sonderausgabe bereits „the end of privacy“, also das Ende der Privatsphäre, ein.
Man kann noch so viele Daten schützen und sichern, die Aufschlüsse über den Patienten liefern. Trotzdem kann eine Person mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent aus den Metadaten, die sie selbst im Internet hinterlässt, durch das Kaufverhalten im Internet oder die Standortbestimmung im Mobiltelefon identifiziert werden. Und wer Soziale Netzwerke nutzt, hinterlässt unendlich viele Spuren. Die großen Konzerne wie Google, Apple, Facebook und viele mehr, die Daten auswerten, gewinnen damit zunehmend Macht über uns.
Das ist bei Patienten nicht anders. Geben Patienten selbst Informationen preis, können Sicherheitsbestimmungen nur schwer eingehalten werden.
Wie wird sich dieses Verhalten auf Kliniken und Krankenhäuser auswirken?
Tolxdorff: Die IT-Abteilungen in Krankenhäusern arbeiten sehr professionell. Das Problem sind – wie gesagt – die Patienten, die über Soziale Netzwerke oder Google ihren Standort direkt oder indirekt preisgeben.
Die Macht der Daten zeigt sich auch im epidemiologischen Kontext, indem Google frühzeitig weiß, wo in Deutschland eine Erkältungswelle ausbrechen wird, weil die Nutzer beispielsweise nach Stichworten wie „Kopfschmerzen“ oder „Gliederschmerzen“ suchen. Damit kann Google Rückschlüsse auf eine bevorstehende Grippeepidemie ziehen.
Das zeigt wiederum, dass es, auch durch Forschung bedingt, sehr mächtige Verfahren gibt, die uns durchleuchten.
Was raten Sie zum Abschluss?
Tolxdorff: Nicht mehr private Daten herausgeben als unbedingt notwendig und trotzdem einigermaßen unbeschwert durchs Leben gehen.
PROFIL:
Univ.-Prof. Dr. Thomas Tolxdorff ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinische Informatik der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören experimentelle Kernresonanztomographie, die virtuelle Realität in der Medizin, Gesundheitsökonomie und GRID-Computing in der Medizin.
19.06.2015