News • Geriatrie-Kongress 2022
Mit Geroscience Alterskrankheiten vorbeugen
Bis zum Jahr 2050 werden sich die öffentlichen Ausgaben für vulnerable, ältere Menschen in Deutschland voraussichtlich mehr als verdoppeln. Bis dahin wird hierzulande jeder vierte Mensch 65 Jahre und älter sein. „Unsere aktuelle medizinische Versorgung hat zwar nachweislich die Lebenserwartung verlängert, nicht aber die Jahre, die in guter Gesundheit und vollständig intakten Körperfunktionen verbracht werden. Daher brauchen wir jetzt neue Präventionskonzepte, bei denen der Schutz vor Gebrechlichkeit und die Erhaltung der körperlichen Funktion im Vordergrund stehen“, sagt Professorin Heike A. Bischoff-Ferrari, Klinikdirektorin der Universitären Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital Zürich und Stadtspital Zürich.
Das öffentliche Gesundheitswesen und die Medizin stehen vor der Herausforderung, dass die Zahl der älteren Menschen mit Bedarf an wirksamer Prävention gegen Vulnerabilität, Funktionsverlust und Mehrfacherkrankungen rapide zunimmt. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Weltbevölkerung älterer Erwachsener voraussichtlich verdoppeln. Am stärksten wird dies in Europa und den USA der Fall sein. „Die Medizin von heute konzentriert sich auf die Behandlung manifester Krankheiten – die Präventionsbemühungen beschränken sich weitgehend auf Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gegen bestimmte Krankheiten. Ich glaube aber, dass sich zukünftig das Modell der sogenannten Gerosience zu einem globalen Schwerpunkt in der medizinischen Wissenschaft entwickeln wird“, sagt Bischoff-Ferrari. „Ich sehe hier einen großen Bedarf und glaube, dass dies in einer alternden Gesellschaft von größter Bedeutung ist.“
Geroscience basiert auf der Erkenntnis, dass der klassische medizinische Ansatz, eine Krankheit nach der anderen zu behandeln, in einer alternden Gesellschaft nicht mehr tragfähig ist. Alternativ hat Geroscience zum Ziel, den Alterungsprozess genau zu messen und zu manipulieren, um damit gleichzeitig mehrere Erkrankungen und das Risiko der Vulnerabilität zu senken. „Im Rahmen meiner Keynote werde ich über die Identifizierung der Hauptmerkmale des Alterns auf molekularer und zellulärer Ebene sprechen. Damit verbunden zeige ich realistische Wege zur Prävention auf, die am biologischen Alterungsprozess ansetzt“, sagt Bischoff-Ferrari. „Unsere Aufgabe ist nun, die neu entstehenden Möglichkeiten weiter voranzubringen.“
Untersucht an mehr als 2.000 Erwachsenen
Bischoff-Ferrari beschäftigt sich im Rahmen der vom siebten EU-Forschungsrahmenprogramm geförderten DO-HEALTH-Studie mit unterschiedlichen Präventionsstrategien. Es ist die größte Studie zu gesundem Altern und Langlebigkeit in Europa. In den vergangenen zehn Jahren wurden insgesamt 2.157 gesunde Erwachsene im Alter von 70 Jahren und älter in die Untersuchung aufgenommen. Sie stammen aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Österreich und aus Portugal. An ihnen wurden drei Präventionsstrategien getestet, die aufgrund ihres potenziellen Nutzens für mehrere Organfunktionen und Gesundheitsergebnisse ausgewählt wurden: die Versorgung mit Omega-3 und Vitamin D in Kombination mit regelmäßigen Trainings. Einzigartig an der DO-HEALTH-Studie ist die umfassende Phänotypisierung aller Teilnehmer, einschließlich zentraler Lebensstilfaktoren wie Ernährung und körperliche Aktivität. Erhoben wurden auch prospektiv Daten zur Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und zur Lebensqualität. „Die bisherigen Ergebnisse und Ausblicke bezogen auf die Geroscience-Aspekte dieser Studie werde ich in meinem Vortrag beim Gerontologie- und Geriatrie-Kongress ebenfalls vorstellen“, so Bischoff-Ferrari. „In der Altersmedizin müssen wir das Thema Prävention neu und umfassend aufnehmen – es sollte das zentrale Ziel einer älter werdenden Gesellschaft sein.“
Erfolg binnen weniger Monate messbar
Bischoff-Ferrari lädt Medizinerinnen und Mediziner dazu ein, sich zukünftig verstärkt mit den Methoden neuer Präventionsmöglichkeiten vertraut zu machen. „Die Geroscience stärkt unter anderem die Relevanz verschiedener Lebensstilfaktoren als Hebel für eine wirksame Prävention. Zu diesen Faktoren gehören neben der Ernährung und physischer Aktivität beispielsweise auch Schlaf, mentale Gesundheit sowie soziale Interaktion. Die Medizinerin sieht Geroscience als Medizin von Morgen – mit dem Ziel, direkt den Alterungsprozess zu behandeln und damit Funktionsverluste und altersbedingte Erkrankungen frühzeitig vorzubeugen, bevor irreversible strukturelle Veränderungen vorhanden sind. „Durch die Messung von Alterungsmerkmalen, den sogenannten Hallmarks of Aging, stehen zudem neue Biomarker zur Verfügung, die mittlerweile binnen weniger Monate den Erfolg präventiver Konzepte messbar machen. Früher vergingen dazu Jahre“, so Bischoff-Ferrari. Damit ließen sich neue Konzepte schnell in die Praxis bringen, um älteren Erwachsenen zu helfen, länger gesund und aktiv zu bleiben. „Spannend ist zudem, dass die gleichen präventiven Maßnahmen zum Verlangsamen des Alterungsprozesses auch Demenz, Krebsrisiko und Stürze vorbeugen. Es ist also lohnenswert, frühzeitig verschiedene gesunde Lebensstilfaktoren zu kombinieren.“
Professorin Heike A. Bischoff-Ferrari berichtet über den aktuellen Stand ihrer Forschung im Rahmen des Gerontologie- und Geriatrie-Kongresses, der vom 12. bis 15. September in Frankfurt am Main stattfindet.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
09.09.2022