Artikel • Pädiatrie
Kindesmisshandlung in der Bildgebung
Es sind Bilder, die auch erfahrenen Radiologen an die Nieren gehen: Säuglinge mit Rippen- oder Armfrakturen, sichtbaren oder unsichtbaren Hämatomen.
Ich erkenne nur das, was ich kenne.
Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel
Ob bei solchen Verletzungen von einer Kindesmisshandlung auszugehen ist oder nicht, ist für den ungeschulten Blick nicht einfach zu erkennen. Welche eindeutigen Merkmale es gibt, welche Differenzialdiagnostik entscheidend ist und wie beim Verdacht einer Kindeswohlgefährdung leitlinienkonform untersucht wird, darüber berichtet auf dem diesjährigen RadiologieKongressRuhr (RKR) Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel, Leiter der Kinderradiologie des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am Universitätsklinikum Jena.
Grundsätzlich gibt es zwei Szenarien, die für den Radiologen bei der Aufklärung einer Kindesmisshandlung infrage kommen: Der Kinderarzt äußert bereits einen Verdacht und möchte diesen bestätigen oder ausschließen lassen. Oder das Erkennen der Misshandlung ist auf einen Zufallsbefund zurückzuführen. „Vor allem im letzteren Fall gilt: Ich erkenne nur das, was ich kenne. Darum ist es so wichtig, mit den grundsätzlichen Verletzungsmustern einer Misshandlung vertraut zu sein“, wie Hans-Joachim Mentzel feststellt.
Zu diesen typischen Verletzungsmustern zählen beispielsweise Frakturen bei jungen Säuglingen, die sich noch nicht drehen können und bei denen somit ein Sturz, beispielsweise vom Wickeltisch, unwahrscheinlich ist – es sei denn, er wurde aktiv herbeigeführt. Klassisch sind Rippenfrakturen oder Brüche der Extremitäten. Aber auch kleine, subtile Verletzungen wie Absprengungen von Kanten aus den Wachstumsregionen der Knochen deuten auf eine Misshandlung hin.
„Entscheidend bei der Beurteilung von Frakturen ist die Plausibilitätsprüfung. Also der Abgleich des geschilderten Hergangs eines Unfalls mit den Verletzungsmustern. Das kann der Radiologe letztlich nicht allein entscheiden, da kommt es auf die Mithilfe eines Rechtsmediziners beziehungsweise Biomechanikers an. Gerade bei den Zufallsbefunden gibt es eindeutige Muster, bei denen jeder Radiologe hellhörig werden sollte. Knochenbrüche bei noch sehr bewegungseingeschränkten Säuglingen beispielsweise sind generell äußerst selten – sofern keine ursächliche Krankheit bekannt ist, die Einfluss auf die Knochenstabilität hat. Darum deuten Rippenfrakturen häufig auf ein bewusstes Zusammendrücken des Brustkorbs beim Schütteltrauma hin“, erklärt der Experte.
Liegt eine solche Fraktur vor, heißt es, leitlinienkonform zu handeln. Und das bedeutet zunächst einmal, dass im Säuglingsalter der radiologische Skelettstatus erhoben werden muss, um weitere Frakturen aufzuspüren. Wichtig ist außerdem die Bestimmung des zeitlichen Ablaufs der Verletzungen: Unterschiedlich alte Frakturen können ebenfalls auf eine Misshandlungssituation hindeuten (Mehrzeitigkeit).
Zum Teil sind das sehr subtile Verletzungen, nach denen wir suchen müssen.
Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel
„Zum Teil sind das sehr subtile Verletzungen, nach denen wir suchen müssen. Dazu zählen kleine Ausrisse oder Abscherungen an den Metaphysen, insbesondere an den Knien oder Ellenbogen, die durch Reißen an Armen und Beinen entstehen. Diese erkennt man nur auf Röntgenaufnahmen und auch nur dann, wenn die Qualität der Aufnahmen sehr gut ist. Die Leitlinien geben darum auch Auskunft über die Durchführung der Untersuchung“, so Mentzel.
Neben den Frakturen sind es Verletzungen im Kopf, die auf eine Misshandlung hindeuten. Das sogenannte Schütteltrauma hinterlässt unter anderem Hämatome, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben und so auch einige Zeit nach dem Vorfall nachweisbar sind. Und auch schwerwiegende Risse im Hirngewebe (sogenannte Scherverletzungen) sind sehr lange erkennbar. Hans-Joachim Mentzel: „Auf solche Verletzungsmuster gilt es gezielt zu achten. Kommt ein Kind bereits mit einem Verdacht auf eine Kindesmisshandlung zum Radiologen, müssen Verletzungen des Gehirns mit speziellen MRT-Sequenzen aufgespürt oder ausgeschlossen werden. Auch darauf gehe ich in meinem Vortrag auf dem RKR ein.“
Darüber hinaus werden mögliche Differenzialdiagnosen wie chronische Erkrankungen des Skelettsystems, die mit einer erhöhten Brüchigkeit einhergehen, besprochen und Hinweise darauf gegeben, wie der Radiologe beim Verdacht einer Kindesmisshandlung vorzugehen hat: „Das Urteil darüber, ob eine Kindesmisshandlung vorliegt, darf nie nur von einer Person gesprochen werden. Als Minimum gilt das Vier-Augen-Prinzip unter Einbeziehung des Kinderarztes und/oder des Rechtsmediziners“, so Hans-Joachim Mentzel abschließend.
Profil:
Hans-Joachim Mentzel absolvierte sein Medizinstudium an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, im Jahr 2000 erwarb er den radiologischen Facharztstatus. Drei Jahre später folgte die Schwerpunktanerkennung „Pädiatrische Radiologie“. Den Ruf auf eine Professur für Kinderradiologie am Universitätsklinikum Jena nahm er 2008 an; weitere Rufe an die Universitäten in Würzburg und Berlin lehnte er ab. Der Vater von zwei Kindern leitet die Sektion Kinderradiologie am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie in Jena, zahlreiche Zusatzqualifikationen wie die Weiterbildungsermächtigung Kinderradiologie und der Ausbilderstatus der Sektion Pädiatrie der DEGUM machen ihn zu einem wahren Experten auf dem Gebiet der Kinderradiologie. Von 2011 bis 2015 war er Vorsitzender der AG Kinderradiologie der Deutschen Röntgengesellschaft und seit 2009 ist er zweiter Vorsitzender der Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie.
Veranstaltungshinweis
Raum: Congress-Saal
Samstag, 31.10.2015, 8:00 Uhr
Kindesmisshandlung
Hans-Joachim Mentzel, Jena
Session: Kinderradiologie
30.10.2015